Rezension

100 Jahre Einsamkeit...

Der halbe Mond - Hasan Cobanli, Stephan Reichenberger

Der halbe Mond
von Hasan Cobanli Stephan Reichenberger

Bewertet mit 4 Sternen

Ein stolzes Herrenhaus in Mecklenburg, ein Pascha-Palais am Bosporus, das Kaiserliche Kadettenkorps in Berlin: In diesen unterschiedlichen Welten wird Feridun, Sohn des Dardanellen-Helden Cevat Paşa, erwachsen. Gedrillt zur Gardejäger und perfekt in Auftritt und Manieren, ist er gern gesehener Gast auf den Gütern adliger Familien in Preußen. Als Diplomat, protegiert vom Revolutionär und Staatsgründer Atatürk, als Frauenheld und charmanter Exot erlebt er zwischen 1920 und 1960 Weltgeschichte aus ungewöhnlichen Perspektiven, unter anderem mit Hitlers Helfer Franz von Papen und dem späteren Papst Giuseppe Roncalli.
Zweimal verheiratet, zunächst mit der Tochter eines türkischen Botschafters, dann mit einer deutschen Aristokratin, macht Feridun dennoch ständig die Bekanntschaft anderer Frauen - unbekannten wie spätereren Berühmtheiten, so beispielsweise Zsa Zsa Gabor. Hasan, Feriduns Sohn aus zweiter Ehe und wie der Vater weder in der Türkei noch in Deutschland wirklich zu Hause, erzählt diese wechselvolle Familiengeschichte im Kontext der Entwicklung zweier Länder und schlägt den Bogen über hundert Jahre bis in das Jahr 2013, als er am Gezi-Park eine unerwartete und berührende Bekanntschaft mit einer jungen Demonstrantin macht...

Mir ist die Lektüre dieses Buches nicht leicht gefallen. Dies erst einmal vorweg. Das lag nicht daran, dass mich die Thematik nicht interessierte oder daran, dass mich die Geschichte gelangweilt hätte. Es lag eher an der Vielschichtigkeit der Erzählung, in der eine hundertjährige Familiengeschichte eng verwoben mit der Historie eines Landes präsentiert wird und dabei auch die Entwicklung anderer Länder und Kulturen mit einbezieht. Es lag an der Vielzahl historischer Fakten, die größtenteils für mich neu oder aber aus ungewohnter Perspektive dargestellt waren. Es lag auch an der Präsentation unzähliger Begegnungen Feriduns mit historischen und berühmten Personen, was gerade im Mittelteil des Buches zu einer gewissen Weitschweifigkeit führte. Und es lag auch an dem doch sehr anspruchsvollen Sprachstil, sehr gepflegt und dergestalt, dass ich oftmals tatsächlich das Gefühl hatte, ein Buch aus vergangenen Tagen zu lesen. Die Sätze oft sehr verschachtelt, nicht selten viele Zeilen lang, und die Sprache sehr bildhaft - was einerseits sehr schön ist, mir andererseits aber meist nach einigen Seiten signalisierte, dass erst einmal eine Pause nötig war, um das Gelesene sich setzen zu lassen. Für mich kein Buch, das sich einfach so runterlesen lässt, sondern eines, das seine Zeit beansprucht. Aber auch eines, das unbedingt lohnt, diese Zeit zu investieren.

Bei einem derart komplexen Roman fällt auch die Rezension nicht leicht. Feridun Cobanli steht im Mittelpunkt des Geschehens, doch es gibt auch Rückblenden auf seinen Vater Cevat Paşa und dessen legendäre Rolle bei der Dardanellen-Schlacht im ersten Weltkrieg, und später verwebt sich zunehmend die Geschichte des Journalisten Hasan Cobanli mit dem Geschehen, Feriduns Sohn aus zweiter Ehe und Mitautor dieses Buches. Eine Erzählung über drei Generationen, jedoch eng verwoben mit der Landesgeschichte: der Entstehung der Türkei aus dem ehemaligen Osmanischen Reich im Jahr 1923 und die Entwicklung des Landes bis in die heutige Zeit. Gerade auf den letzten Seiten des Buches wird deutlich, dass die Entwicklung sicher noch nicht abgeschlossen ist, dass die Position immer wieder wankt und wackelt und bereits erreicht Geglaubtes jederzeit wieder zerschlagen werden kann, je nachdem, welcher Kerl sich da gerade an die Spitze setzt. Macht um jeden Preis, und das birgt Gefahren. Aber ich schweife ab.

Und diese Einsamkeit spüre ich schon lange, nicht erst jetzt. Ich habe mich immer einsam gefühlt, weil mich niemand hier verstanden hat und verstehen will. (S. 302)

Alle Jungen vermissen ihre Väter. Das ist sicher eine Thematik, die sich durch die gesamte Erzählung zieht. Feridun, der gerade mal zehnjährig vom Bosporus zum Kaiserlichen Kadettenkorps in Berlin kommt, gedrillt zum Gardejäger und ab da wurzellos. Sein Vater, militärisch immer beschäftigt, war in seiner Kindheit kaum je zu Hause, und als Feridun nach zehn Jahren ins Haus seiner Eltern zurückkehrt, fällt kaum einmal ein persönliches Wort zwischen den beiden. Feridun, der die Hälfte seines bisherigen Lebens in Deutschland verbracht hat, fühlt sich hin und her gerissen zwischen den Kulturen und entscheidet sich gegen eine weitere militärische Laufbahn. Er tritt in den Diplomatendienst ein, was ihn im Laufe seiner Amtszeit in viele Länder führt. Viele Länder, viele Begegnungen, viele Frauen. Durch eine vom Vater arrangierte und durch Atatürk gutgeheißene Ehe zwar verheiratet, lässt Feridun doch keinen Rockzipfel aus. Auch die Geburt des ersten Sohnes verhindert nicht, dass Feridun ständig seinen Vergnügungen nachgeht. Nach dem Scheitern der Ehe wirbt Feridun nachhaltig um Benita, die jüngste Tochter der adeligen Familie Roon, die ihm zu Zeiten des Kaiserlichen Kadettenkorps am Wochenende wie eine zweite Familie war. Doch auch als Benita dem Werben nachgibt und ihm als seine Frau in die Türkei folgt, nimmt Feridun sein gewohntes Leben wieder auf - die Katze lässt das Mausen nicht. Hasan, der Sohn aus Feriduns zweiter Ehe, erlebt wiederum die Einsamkeit einer Kindheit...

Der immer ferne, ihm eigentlich fremde und doch vergötterte Papi (...) Hasan hatte sich daran gewöhnt, sich gewöhnen müssen, mehr oder weniger als Halbwaise aufzuwachsen. Aber die wenigen Tage und Stunden, die der Vater tatsächlich für ihn da war, hatte der Sohn umso mehr genossen, an jede Minute, an jedes kleine Gespräch konnte er sich erinnern... (S. 386)

Dieses Buch ist in meinen Augen auch der Versuch eines Mannes, sich mit seiner Vergangenheit auszusöhnen. Zusammenhänge zu erfassen und darzustellen, auch in einem größeren und für den Leser sicherlich interessanten Rahmen. Erklärungen zu suchen für ein Verhalten, das Kinder verletzt, Muster zu erkennen, die sich wiederholen, die Ursachen zu erforschen für eine Beziehungsunfähigkeit, die sich durch die Generationen zieht. Aber all das spielt leise im Hintergrund mit, im Vordergrund steht die schillernde Persönlichkeit Feridun Cobanli und dessen Verflechtung in dem geschilderten historischen Kontext.
Dabei empfand ich das Buch vor der Liebe zwischen Feridun und Benita eher als sachlich und unpersönlich, oftmals fehlte mir da als Leser der Bezug zu den Charakteren. Interessante Schilderungen historischer Ereignisse und Begegnungen mit zahlreichen Persönlichkeiten schmückten die Geschehnissen, aber ein wirklicher Zugang zu den Personen fehlte mir bis dahin. Das änderte sich mit den zahlreichen Briefen, die zwischen Benita und Feridun hin und her geschickt wurden und die hier in dem Roman Eingang gefunden haben.

Bei Deinem Abschied aus Königsbrück hast Du auf die Mondsichel gedeutet und gesagt: Liebling, ich schenke Dir jetzt den halben Mond - und die andere Hälfte bring ich Dir mit, wenn ich wiederkomme. Du sollst hinaufschauen und wissen, ich bin immer bei Dir. (S. 292)

Ab diesem Abschnitt bekommt der Leser mehr Zugang zu den Gedanken und Gefühlen der Charaktere, was es mir sehr erleichtert hat, dem Geschehen auch innerlich zu folgen.

Was für ein schwieriges Unterfangen, die Geschichte der Türkei mit einer 100jährigen Familiengeschichte zu verknüpfen, Hut ab. Vieles ist mir deutlich geworden, gerade auch bezüglich der historischen Komponenten. Zwischen den Zeilen wird die Wehmut und Zerrissenheit des Autors Hasan Cobanli deutlich, aber sie dominiert nicht die Geschichte und versucht nicht, den Leser auf seine Seite zu ziehen. Eine gut erträgliche Form, mit der Vergangenheit abzurechnen und vielleicht auch abszuschließen. Es ist ihm zu wünschen.

Insgesamt eine beeindruckende und anspruchsvolle Lektüre, ein Buch, das das Lesen entschleunigt, für die Mühe des Lesens aber belohnt mit einer interessanten Familiengeschichte, gespickt mit zahlreichen historischen Gegebenheiten.

© Parden