Rezension

Absolut unvorhersehbar - so wie ein guter Thriller sein sollte!

Beim Leben meiner Tochter - Michel Bussi

Beim Leben meiner Tochter
von Michel Bussi

Bewertet mit 4.5 Sternen

Würde sich "Beim Leben meiner Tochter" darauf beschränken, lediglich die polizeilichen Ermittlungen darzustellen, könnte man diesen Thriller als das Idealbeispiel eines Regiokrimis bezeichnen: Auf der französischen Insel La Réunion spielend, erfährt man hier so ganz nebenher sehr viel über Flora und Fauna; auch politische und gesellschaftliche Lagen werden angesprochen. Wo sind die gepriesenen Urlaubsregionen, welche Orte erwähnt man lieber nicht...? Ich habe zuvor kaum etwas über diese Insel gewusst und ich denke, grade dann ist "Beim Leben meiner Tochter" eigentlich ideal, weil man z.B. nicht ahnt, dass, wenn jemand in die Enge getrieben wird, er das zu Gunsten eines Fluchtwegs freiwillig tun könnte. (Als zum ersten Mal erwähnt wurde, dass dies keine Falle für den Flüchtenden sei, bildete sich über meinem Kopf lediglich ein riesiges Fragezeichen, aber wie gesagt: Ich wusste nichts über die dortigen Verhältnisse und hätte mir das so, absolut verständlich, wie das nachher aufgelöst wurde, selbst niemals ausgemalt. Wer sich da jedoch auskennt, wird wohl eher verstehen, was es mit dieser "Ausweglosigkeit" auf sich hat, und die Geschichte da ggf. als nicht ganz so spannend empfinden. Für mich hat meine Ahnungslosigkeit die Spannung nämlich doch klar verstärkt.)

Der Bussi-Roman beschränkt sich nun nicht auf die Polizeiarbeit, sondern berichtet auch sehr viel vom unter Mordverdacht stehenden Vater, der mit der kleinen Tochter flieht, nachdem seine Ehefrau, die Mutter der Kleinen, spurlos verschwunden ist, abgesehen von den Blutspuren im Hotelzimmer.
Dabei gelingt es Bussi, Martial so darzustellen, dass man ihn nicht allzu sympathisch findet, aber auch nicht glaubt, dass er seine Ehefrau tatsächlich umgebracht hat und letztlich verwundert registriert, dass er verschwindet.
Die Buchbeschreibung liess mich zunächst annehmen, er würde sich aus Unzufriedenheit mit der Polizeiarbeit mit der Tochter absetzen, um den Verbleib seiner Frau selbst aufzuklären und dass "Beim Leben meiner Tochter" sich sehr stark auf das Mädchen fokussiert, aber Josapha tritt erst gen Romanende einige Male als Ich-Erzählerin auf, die ihrem Vater zwischenzeitlich sehr zu misstrauen begonnen hat. Ebenso wie wohl auch der Leser: Denn Martial deutet bereits kurz nach seinem Verschwinden an, dass er irgendwie in das Verschwinden seiner Frau verstrickt ist und ich habe die ganze Zeit damit gerechnet, dass er zumindest Zeuge vom Mord an Liane geworden ist, wenn er den, warum auch immer, nicht sogar selbst in Auftrag gegeben hätte.
Andererseits: Rückte Josapha von ihm ab bzw. konfrontierte ihn mit ihren Ängsten und persönlichen Schlussfolgerungen (da wäre mein einziger Kritikpunkt übrigens, dass ich Josapha in den Gesprächen mit ihrem Vater nicht allzu kindlich empfunden habe), warb er um ihr Vertrauen, beteuerte, er habe Liane nichts getan und versprach, Josapha zu ihrer Mutter zu bringen. Letzteres löste ihn mir letztlich ein sehr unheilvolles Gefühl aus, denn was tatsächlich mit Liane geschehen war, sollte sich erst zuletzt herausstellen und ich war bald mehr als bereit dazu, den Indizien und Überzeugungen der Polizei zu glauben und in Martial wen zu sehen, der seine Familie auslöschen wollte.

Es war mir jedoch eben unerklärlich, welchen Hintergrund das alles haben sollte (zumal die Geschichte quasi zum Zeitpunkt von Lianes Verschwinden einsetzt und man die familiäre Struktur gar nicht beurteilen kann; ich hatte auch schon sehr bald das Gefühl, die Familie sei gar nicht so glücklich gewesen wie sie es laut Buchbeschreibung doch sein sollte), und darum war es mir unmöglich, NICHT weiterzulesen. ;) Das Ende ist sehr logisch, nachvollziehbar und schlüssig.
Ich werde nun rein gar nichts über den Ausgang verraten, aber ich sagte schon, dass ich irgendwann damit rechnete, Martial würde seine Familie auslöschen (wollen); ferner ist der Romantitel "Beim Leben meiner Tochter": Der womöglich auch gewaltsame Tod des Kindes ist hier also nie unwahrscheinlich; ich hatte sehr viel Sorge um das kleine Mädchen. Tatsächlich geschehen im Verlaufe der Erzählung auch noch einige Morde, die nicht blutrünstig und detailliert geschildert werden, aber man weiss doch, wie hinterhältig und brutal diese Taten ausgeführt werden. Mit einer Leiche wird noch sehr makaber umgegangen, aber wer in dieser Hinsicht sehr empfindlich ist, wird wohl sowieso eher keine Thriller lesen. Aber was, wie ich fürchte, doch triggern könnte: Nein, das ist nun kein Spoiler; ich verliere kein Wort darüber, wie die Geschichte der Familie ausgeht, aber in "Beim Leben meiner Tochter" wird der sehr tragische Tod eines Kindes dargestellt (kann sein, dass es Josapha ist; vielleicht aber auch nicht; eventuell hat es auch gar nix mit Josapha zu tun; womöglich hat es ganz viel mit Josapha zu tun, obwohl sie es nicht ist - oder halt grade, weil sie es doch ist; jener Tod liegt vielleicht auch schon sehr lange zurück; vielleicht sterben auch mehrere Kinder und nur einmal wird der Tod klar geschildert...) und dieses Sterben hat auch mich bis in die Tränendrüse erschüttert.
Allen, die mit dem Sterben von Kindern, (grad) auch in fiktiver Form nicht gut umgehen können (vor Allem auch verwaisten Eltern), kann ich von der Lektüre dieses Thrillers nur abraten. 

Ansonsten: Gemeinhin ist dies ein echt toll erzählter, verzwickter Fall, dessen Auflösung man sich nicht gleich denken kann - und wenn man meint, man hat's nun doch herausbekommen, macht die nächste Szene die eigene These sicherlich wieder zunichte. (Ich hatte nach der Hälfte der Geschichte sechs Theorien entwickelt, und keine hatte etwas mit der tatsächlichen Auflösung zu tun.)