Rezension

Alice Miller: Die Revolte des Körpers

Die Revolte des Körpers Miller, Alice

Die Revolte des Körpers
von Alice Miller

Alice Miller spricht in „Die Revolte des Körpers“ über das vierte Gebot und dessen Auswirkungen auf die Gesellschaft

“Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.“ Dieses ist das vierte von zehn Geboten, die Mose laut dem Alten Testament auf dem Berg Sinai von Gott erhielt.

Alice Miller schreibt in ihrem 2005 erschienenen Buch „Die Revolte des Köpers“ über die Bedeutung dieses Gebots, das nicht nur Jahrtausende lang überleben konnte, sondern dessen Inhalt sogar ausschlaggebend für die Zielsetzung der Psychotherapie wurde.

Nach Miller wird in der vorherrschenden Therapie davon ausgegangen, dass das oberste Ziel die Versöhnung mit den Eltern sei. War die Kindheit noch so schlimm, wurde man misshandelt oder missbraucht, so solle man in der letzten Therapiestunde doch dazu bereit sein, seinen Eltern zu verzeihen und Liebe für sie zu empfinden. Nur so könne man von einer erfolgreichen Behandlung sprechen.

Mit dieser Auffassung wollte die Schweizer Psychoanalytikerin nicht länger konform gehen und gab ihre Arbeit nach zwanzig Jahren auf um sich mit den Ergebnissen ihrer Kindheitsforschung in Form von mittlerweile elf Büchern an die Öffentlichkeit zu wenden.

Sie stellt sich gegen die Verleugnung der Gefühle, die das Resultat leidlicher Kindheitserfahrung darstellen, und möchte misshandelte Opfer ermutigen, die wahren Empfindungen nicht länger Zugunsten einer verinnerlichten, aber unreflektierten Norm zu unterdrücken.

Dostojewski, Franz Kafka, Virginia Woolf und Marcel Proust – sie alle verbindet nicht nur die Schriftstellerei, sondern auch eine komplizierte Beziehung zu ihren Eltern. So zeugen Berichte über Dostojewskis Vater von maßloser Brutalität, und Proust war ein von seiner dominierenden und beherrschenden Mutter verängstigter Junge, der immer um ihre Zuneigung bangte. Kafka litt sein ganzes Leben unter der Furcht vor seinem Vater und Woolf wurde von ihren Halbbrüdern sexuell missbraucht, ohne Hilfe von ihren Eltern zu bekommen. Sie alle teilten das gleiche Schicksal: Entweder sie starben früh an einer Krankheit oder nahmen sich selbst das Leben.

Anhand dieser biographischen Fakten verdeutlicht Miller ihre Theorie: Der unbewusste Versuch der Autoren dem christlichen Gebot Folge zu leisten und damit über die Grausamkeiten in der Kindheit hinwegzusehen, hieße nichts anderes als Traumata zu ignorieren. Zwar könne man oberflächlich positive Gefühle für die Eltern entwickeln, doch der Körper könne die Erfahrungen nicht verdrängen. Er habe sie registriert, gespeichert und wehre sich. Der Mensch wird krank – die Revolte des Körpers.

Wie sie in ihrem Buch erwähnt, brauchte Miller selbst vierzig Jahre um verdrängte Erinnerungen an Misshandlungen aufzuarbeiten. Sie löste sich von der traditionellen Moral, der sie nicht entsprechen konnte, und den damit verbundenen Schuldgefühlen.

Neben den eigenen Erfahrungen bezieht sich Miller auf Briefe, Biografien und Berichte anderer Opfer, deren Geschichte mit ihrer Theorie übereinstimmen.

Immer wieder macht sie auf die Gefahren aufmerksam, die eine Unterwerfung unter die Diktatur der Moral in sich bergen. So widmet Miller sich in einem nur vierseitigen Abschnitt dem Phänomen der Serienmörder und geht speziell auf die Biografie von Patrice Alègre ein, der mehrere Frauen vergewaltigt und erwürgt hat. Auch hier finden wir eine schlimme Kindheitsgeschichte mit einem gewalttätigen Vater und einer Prostituierten als Mutter, die mit ihrem Sohn nicht nur Inzest beging, sondern ihn auch als Wächter vor der Tür positionierte, wenn sie Kundschaft empfing. Für die Psychoanalytikerin ist der Fall klar: Die Verwirrung, die das sexuelle Verhalten der Mutter auf Alègre bewirkt, löst in dem Jungen den Wunsch aus, seine Mutter, während sie beim Verkehr stöhnt, zu töten. Da er aber den eigentlichen Hass unterdrückt und meint, sie zu lieben, ermodert er an ihrer Stelle andere Frauen.

Die Einfachheit dieser Analyse erscheint fast unglaubwürdig. Millers Argumentation lebt von einer plausiblen Logik, die sich auf alle ihre zahllosen Beispiele anwenden lässt. An scheinbar zu vielen Fällen lassen sich die Konsequenzen aufzeigen, die das Halten an das vierte Gebot mit sich bringt. Es ist wohl das Unkomplizierte, das Zweifel an Millers Theorie aufkommen lässt.

Gleichzeitig beweist die Analytikerin jedoch mit ihren zahlreichen Veröffentlichungen und ihrer langjährigen Forschungsarbeit ihre Unabhängigkeit von traditionellen Normen, indem sie ein altbewährtes System hinterfragt, sich mit einer klaren Begründung dagegen wendet und ihm eine nachvollziehbare und interessante Alternative entgegenstellt. Es ist lohnend, sich mit dieser neuartigen Sichtweise zu beschäftigen, zumal Miller sehr darauf bedacht ist, eine leicht verständliche Sprache zu verwenden. Denn nicht zuletzt ist es ihr Ziel, die Gesellschaft und damit auch Opfer aufzurütteln und für das Problem des vierten Gebots zu sensibilisieren.