Rezension

Analyse einer tief gespaltenen Gesellschaft

Amerika auf der Couch - Allen Frances

Amerika auf der Couch
von Allen Frances

Bewertet mit 5 Sternen

Allen Frances wurde nach der Wahl von Ronald Trump zum amerikanischen Präsidenten gebeten, in einer Fernsehsendung Trumps Psyche zu analysieren. Die Berufsethik der Fachärzte für Psychiatrie verbietet allerding Ferndiagnosen an Politikern. Frances wurde vom Wahlsieg Trumps kalt erwischt, weil er zum Zeitpunkt der Wahl bereits an seiner Analyse der USA arbeitete und bis dahin den Kandidaten für keinen ernstzunehmenden politischen Gegner gehalten hatte. Hier schreibt nun der Sohn von Emigranten über einen Nachkommen von Emigranten, beide Männer sind in Queens aufgewachsen.

Frances beschreibt zunächst den Ist-Zustand der USA und erläutert dabei, was die Wahl Trumps über das Land und seine Wähler aussagt. Auch ein ungehobelter Narzisst ersten Grades müsse an keiner psychischem Krankheit aus dem DSM-5 leiden (dem Diagnostischen und statistischen Leitfaden psychischer Störungen), gibt Frances seinen Lesern gleich zu Beginn mit auf den Weg. Wenn man rücksichtsloses Benehmen zur psychischen Erkrankung erklären wollte, müssten fast alle Politiker und Prominenten als psychisch gestört bezeichnet werden. Wirklich psychisch Kranke würden durch dieses Vorgehen stigmatisiert.

Frances eloquent vorgetragene Charakterisierung Trumps hat mir in ihrem reinen Umfang die Sprache verschlagen, ebenso die Liste der fatalen Irrtümer des Präsidenten zu existenziellen Problemen, die komplett zu widerlegen sind. Der Autor blickt zurück in die Weltgeschichte und die amerikanische Geschichte, um drängende Probleme der Gegenwart zu beurteilen. Muss wirklich jede Nation und jede Generation fatale Fehler unserer Vorfahren wiederholen, fragt man sich in diesem Kapitel. Die Liste der Trump-Fails reicht von der Klimaerwärmung, über Überbevölkerung, Resourcen-Verschwendung, den Irrglauben, man bräuchte nur den Reichen zu geben, damit die gesamte Nation profitieren werde, das amerikanische Gesundheitssystem als Spielwiese von Lobbyisten und Pharmakonzernen, den unangreifbaren Wahn, die USA seien in allem die Erfolgreichsten und deshalb zur Weltpolizei legitimiert, die Illusion, auch nur ein einzelner Krieg könnte wirtschaftlich profitabel sein, die rücksichtslose Durchsetzen von Interessen der Menschen gegenüber dem Lebensrecht anderer Spezies, die weltfremde Vorstellung, ein Staat könnte sich in der globalisierten Welt durch Mauern oder Strafzölle abschotten, das blinde Vertrauen in Big Brother und in den technischen Fortschritt, der schon von selbst alle Probleme lösen werde, bis zum ebenso blinden Glauben, private Waffen würden der Sicherheit dienen. Aus Sicht des Psychiaters analysiert Frances eloquent, welch explosive Grundlage in den USA aus Puritanismus, religiösem Extremismus, Kulturlosigkeit, mangelndem Geschichtsbewusstsein und Geldgier entstanden ist. Europäischen Lesern wird hier ernüchternd ein Spiegel vorgehalten; denn Wahlergebnisse in Europa bilden exakt die beschriebene Struktur ab, in der Bürger fordern „meine Stadt first“ und nach einer starken Vaterfigur suchen, der sie blind zu folgen bereit sind. Wie fatal sich die Szenarien in Europa und den USA ähneln, ist Grund genug, Frances USA-Analyse und seine To-Do-Liste für die unmittelbare Zukunft zu lesen.

Die Trump-Wahl sei nur das Tüpfelchen auf einer offen rassistischen, gespaltenen Gesellschaft, die die arbeitende Bevölkerung seit 1970 wirtschaftlich abgehängt hat. Die amerikanische Verfassung habe offenbar mit „man“ nicht „den Menschen“ gemeint, sondern den weißen Mann. Frauen, Farbige und die Arbeiterklasse wären als Staatsbürger nicht gleichgestellt; Frauenfeindlichkeit sei in der amerikanischen Gesellschaft tief verwurzelt. Frances blickt bis zum Peleponnesischen Krieg zurück, um aufzuzeigen, warum Menschen immer wieder falsche Entscheidungen treffen und inkompetenten Führern folgen, und was Psychologie und Verhaltensforschung über diese Prozesse zu sagen haben. Unsere Gehirne seien einfach noch nicht an die Moderne angepasst, so Frances. In einer Überflussgesellschaft seien primitive, impulsive Handlungen jedoch ineffizient (iss sofort die ganze Pizza, ehe es ein anderer tut). Über seine eloquente Analyse könnte ich noch seitenweise berichten.

Im Gegensatz zu seinem „Klienten“ Trump, den er hier auf die Psychiater-Couch legt, weiß Frances sich angemessen auszudrücken, ohne dabei ein Blatt vor den Mund zu nehmen, und verfügt über ein für einen Berufsfremden beachtliches volkswirtschaftliches Wissen. Frances schreibt altersweise und mit spürbar schlechtem Gewissen, welche Welt seine Generation Kindern und Enkeln hinterlässt. Er persönlich z. B. habe sich zu spät für amerikanische Politik interessiert. Nun sei es höchste Zeit, die Macht des Geldes und den zügellosen Vetternwirtschafts-Kapitalismus mit der Macht des Volkes zu bekämpfen. In den letzten Kapiteln bringt Frances schließlich ermunternde Beispiele, wie Menschen alte Gewohnheiten abwerfen und überraschende Veränderungen bewirken konnten.

Im Ausdruck und mit seinen Lösungsvorschlägen überschreitet Frances in einigen Fragen die Grenze zum Populismus. Er personalisiert z. B. „die Konzerne“ und, „die Computer“, ein Indiz dafür, dass er komplexe Zusammenhänge nicht sehen kann oder will. Allerdings ist er sich der Gefahren sehr bewusst, die in der Schwächung der Gewaltenteilung liegen, wenn Justiz und freie Presse ihrer Aufgabe nicht mehr nachkommen können. Eines von Frances Herzensthemen ist die Überbevölkerung mit dem daraus folgenden Kampf um Resourcen, die er speziell in den Krisenherden Afrikas und des Mittleren Ostens kritisiert. Um hier wirksame Lösungsvorschläge vorbringen zu können, fehlen dem Autor allerdings interkulturelle Kompetenzen und die Wahrnehmung aller Variablen. Die Grenzen des eigenen Wissens kann er offenbar nicht erkennen. Selbst amerikanischen Zeitungslesern sollte nach 60 Jahren Entwicklungshilfe-Kritik klar sein, dass das heikle Thema Familienplanung ohne grundlegende Reformen von Bildungs- und Gesundheitssystemen nicht umzusetzen ist. Frances‘ Vorschläge würden im Ausland vermutlich bereitwilliger angenommen, wenn die USA zuvor eigenen Kindern und Müttern ein allen zugängliches menschenwürdiges Leben verschafft hätten, unabhängig vom Vermögen der Eltern.

Frances Analyse hat mich positiv überrascht durch seine für einen US-Amerikaner erstaunliche Bildung und seine ausgiebige Recherche. Sein Buch ist sorgfältig in flüssiges Deutsch übersetzt, so dass ich die Namen der Übersetzer gern auch auf dem Titelblatt lesen möchte. Wer sich von langen Satzgebilden nicht abschrecken lässt, findet bei Allen Frances Parallelen zu Entwicklungen in Europa, die niemandem gleichgültig sein sollten.