Rezension

Assoziative Schreibe und Matrijoschkatechnik

Außer sich - Sasha Marianna Salzmann

Außer sich
von Sasha Marianna Salzmann

Bewertet mit 4 Sternen

Die Lektüre dieses Romans war ein Wechselbad der Gefühle, ich mochte es, nicht, doch, nicht, doch. Letztlich fällt die Bilanz eher postiv aus, aber im Vergleich zu "Die Hauptstadt" von R. Menasse fällt das Buch sehr TIEF ab. Deshalb wünsche ich mir, dass "Die Hauptstadt" den Deutschen Buchpreis bekommt. Denn Robert Menasse ist ein Könner, Frau Salzmann aber noch eine Anfängerin, wenn auch eine vielversprechende.("Das Floß", auch ein heißer Anwärter auf den Preis, habe ich noch nicht gelesen).

Wie fast alle russlanddeutschen Aussiedler reißen sich Valja und Kostja den Hintern auf, um ihren Kindern bessere Lebensbedingungen zu verschaffen, doch alles Sichaufreiben hilft nichts, wenn man nicht integrationswillig ist oder unfähig dazu oder eine Mischung von beidem, wie es bei Kostja der Fall ist, dem Vater von Ali, der erzählenden Figur. Die Mutter kommt besser im Westen an, beißt die Zähne zusammen und fasst Fuß in ihrem Beruf als Ärztin. Endlich lässt sie sich auch von Kostja scheiden, den sie eigentlich niemals heiraten wollte und der aufgrund seiner eigenen Familiengeschichte zu einer Partnerschaft niemals fähig war.

„Außer sich“ ist also die Geschichte einer russischen jüdischen Aussiedlerfamilie, den Tschepanows, die sich sich über vier Generationen erstreckt. Erzählt wird intensiv und innovativ. Das Problem ist, dass sich die Komposition Sasha M. Salzmanns als Matrijoschkaerzählung entpuppt. Jeder kennt sie, diese Püppchen aus dem slawischen Raum, die man nach Belieben zusammenstecken und auseinandernehmen kann, in jedem Püppchen ist wieder ein Püppchen.

Zuerst begegnet dem Leser nämlich die gerade erwachsen gewordene Ali, jüngster Sproß der Familie, aufgewachsen zunächst im Asylantenheim, angefeindet als „Judensau“, zusammengeschlagen, notangepasst, die schon in ihren Kinderjahren als Dolmetscherin der Familie fungiert. Aus dem Leser nicht ersichtlichen Gründen, weiß Ali nicht, ob sie Männchen oder Weibchen ist und ringt mit ihrer Geschlechterrolle.

Je nach Lesart ist Alis persönliche Problematik aufgesetzt und der aktuellen Genderdebatte geschuldet: damit macht man heuer Punkte, der Roman schleudert sich so von einem beliebigen Auswandererdrama in einen modernen Sog, der Vulgaritäten, Obszönitäten und Sexismen umschließt.

Eine andere Lesart ist, die Thematik des Außer-sich-seins wäre schriftstellerisch bewusst so auf die Spitze getrieben, kulturell, national, familiär, sexuell und geschlechtsbezogen, dass es auch noch dem letzten Deppen klar wird: hier ist keine Heimat entstanden.

Leider steht Ali nicht im Mittelpunkt des Geschehens, raumgreifend ist die Auswanderung der Familie, anderweitig schon tausendfach erzählt. Mit Ali wird das Auswanderungsschicksal der Familie nur modern unterlegt. Und das ist die Kritik. Der Leser glaubt, er bekommt eine Identitätsfindung, doch die bekommt er nicht, höchstens mittelbar, unmittelbar muss er sich mit den Gräulen des sozialistischen russischen Gesellschaftssystems auseinandersetzen. Denn unvermittelt wird die Alipuppe weggenommen, Elternpuppen, Großeltern und Urgroßelternpuppen stecken unter ihrer Schürze. Und dann wird wieder zusammengesteckt. Und wieder auseinandergenommen. Dies ist nicht direkt chronologisch wirr, nur eine assoziative Schreibweise, es ist alles nachvollziehbar, dennoch, irgendwann ist die Empathiefähigkeit des Lesers erschöpft. Nach dem xten Umschwung ist er erledigt.

Sprachlich bietet der Roman einige Herausforderungen. Auf der einen Seite sind die Erzählbilder wild und frisch, auf der anderen Seite vulgär, ordinär oder einfach falsch. Auch künstlerische Freiheit braucht einen Rahmen, den Salzman jedoch häufig sprengt. In Laufe der Zeit werden die exaltierten Bilder anstrengend.

Dass die Perspektive häufig von der Icherzählung unverhofft wieder in eine der Dritten Person wechselt und zurück, ist verkraftbar und zur Not als modern und zulässig anzusehen.

Ein Glaubwürdigkeitsproblem hat die Autorin mit dem historischen Teil nicht. Was sie erzählt, hat Hand und Fuß, ist grauenhaft und in seiner lakonischen Mitteilung authentisch.

Fazit: Es kommt ganz drauf an, wie man diesen Roman liest. Er ist modern in seiner Komposition, er ist auch frisch, aber auch langatmig und herausfordernd. Man muss wissen, auf was man sich einlässt. Dass der Roman mit seinem ersten Kapitel völlig falsche Erwartungen erweckt, schadet ihm. Die Autorin kann was, aber sie mutet dem Leser einfach zu viel auf einmal zu.

Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
Verlag: Suhrkamp, 2017
 

Kommentare

LySch kommentierte am 21. September 2017 um 12:52

Das mit der Матрёшка -Technik gefällt mir und macht neugierig! Danke für deine Rezi, die ist sehr gut!