Rezension

Aufwühlend und zum Nachdenken anregend

Still Chronik eines Mörders - Thomas Raab

Still Chronik eines Mörders
von Thomas Raab

Bewertet mit 4 Sternen

Der Protagonist Karl Heidemann kommt mit einem äußerst sensiblen Gehörvermögen auf die Welt, das ihn befähigt, selbst den leichten Flügelschlag eines Schmetterlings zu hören. Diese unglaubliche Gabe ist zugleich auch ein Fluch für das Kind, das aufgrund der ständigen Höreindrücke, die auf ihn einprasseln immense Schmerzen zu erleiden hat. Die einzige für ihn mögliche Weise reagiert das Baby Karl Heidemann darauf mit permanentem Schreien, wodurch sich sein Umfeld von ihm abzuwenden beginnt. Schon als Kind von allen missverstanden, zieht sich der kleine, an sich hochintelligente Karl bald komplett in sich zurück, lebt fortan alleine im Keller des elterlichen Hauses, beobachtet von seiner Mutter mittels Videokamera. Seine Mutter ist bald völlig verzweifelt, durch die Ablehnung, die sie von ihrem eigenen Kind erfährt und begeht Selbstmord vor den Augen Karls.

Vom Anblick seiner toten Mutter, ihrer tiefen stillen Zufriedenheit in ihrerem Antlitz, tief ergriffen möchte Karl in seiner kindlichen Naivität diesen Zustand tiefster Ruhe und Glückseligkeit auch anderen Menschen schenken. So begeht er schon in frühester Jugend seine ersten Morde. Sein Vater, der dahinterkommt, wendet sich voll Grausen von seinem Sohn ab, da er ihn als Bestie ansieht. Karl, tief verletzt von soviel Unverständnis verlässt sein Elternhaus, um danach mordend durchs Land zu ziehen. Durch sein feines Gehör nimmt er von seinen Mitmenschen Dinge auf, die für andere verborgen bleiben und so weiß er über deren Sorgen und Sehnsüchte bestens Bescheid, und glaubt, sie von diesen irdischen Qualen befreien zu müssen, indem er ihnen den Tod bringt.

Eines Tages lernt er als Jugendlicher die taubstumme Marie kennen, ein Mädchen von vierzehn Jahren, zu der er eine seelische Verbundenheit verspürt. Die beiden verstehen sich ohne Worte, Karl ist fasziniert von ihrer Anmut und ihrem überschäumenden Lebensmut. Fassungslos muss er zusehen, wie sie von ihrem Vater schwerst misshandelt wird und fasst den Entschluss, ihn zu töten, um sie aus dessen Tyrannei zu befreien. Der Mordversuch misslingt, ihr Vater ist von da an behindert.

Karl verschwindet aus dem Ort, und kommt in einem Kloster unter, kann Marie aber fortan nicht mehr vergessen, scheint geradezu besessen von ihr zu sein.

"Still" ist ein unglaublich aufwühlendes und emotionales Werk. Wer allerdings einen blutrünstigen Thriller erwartet, mag enttäuscht sein, Morde geschehen zwar am laufenden Band, und doch passieren diese quasi nebenbei. Es geht hier mehr um die emotionale Ebene, um das Unverstanden-Sein einer verirrten Seele. Karl ist zweifelsohne ein Serienmörder, und trotzdem nimmt man ihn in seiner kindlichen Unschuld nicht als böse wahr. Der Beweggrund für sein Handeln ist immer ein edler, sein daraus resultierendes Tun nur eine erschreckende Konsequenz. Auf brillante Weise versteht es Raab, die Denkweise des Lesers und dessen Rechtsempfinden zu manipulieren, sodass man die Schuld letztendlich dem Umfeld Karls zuschreibt, einfach weil man Karls Beweggründe versteht und für ihn Mitleid entwickelt, während hingegen seine Mitmenschen durchwegs feindselig und grausam ihm gegenüber agieren. Einzig seine beiden Mentoren Alois und Pater Paolo sind imstande, Empathie für Karl Heidemann zu entwickeln.

Den Stil des Autors fand ich recht gewöhnungsbedürftig und schwer verständlich. Dieser Umstand wurde aber durch die perfekt gewählte, einfühlsame Sprecher-Stimme von Frank Arnold wettgemacht.

Phasenweise fühlt man sich an Süßkinds "Parfüm" erinnert, und doch handelt es sich hier keineswegs um keinen müden Abklatsch dessen sondern ist, was es ist: Ein aufwühlendes Werk, das sich durch seine Andersartigkeit vom Rest der Masse abhebt und besticht!