Rezension

Ausdrucksstarkes Debütbuch

Leinsee
von Anne Reinecke

Bewertet mit 4.5 Sternen

Anne Reineckes Debütroman glänzt mit einer wunderbaren Sprache, die direkt, fantasievoll, ungewöhnlich, ausdrucksstark, lebendig und bildgewaltig ist. Es sind Sätze, die man immer wieder lesen möchte, die eine Kraft haben, die man selten findet.

"Karl würgte und schluckte. In seinem Brustkorb brannte es. Und es stach als würde sich ein zusammengerolter Igel darin drehen." (Zitat, S. 110).

Es ist die Geschichte von Karl. Karl, der zurückkehrt nach Leinsee, dem Wohnort seiner Eltern. Der Vater tot, erhängt, die Mutter im Krankenhaus vor einer OP, die sie wahrscheinlich nicht überleben wird. Karl, das einzige Kind, wurde schon mit 10 Jahren in eine Internat abgeschoben, die Eltern, berühmt, lebten nur für ihre Kunst und ihre Zweisamkeit. Nun ist Karl 26, längst erwachsen, selber Künstler, er lebt in Berlin unter einem Pseudonym und hat schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern gehabt.
Ein Mann, der nun versucht anzuknüpfen, was war und was sein wird. Auf der Suche nach den Erinnerungen. Im Garten des Elternhauses trifft er auf ein 8jähriges Mädchen, Tanja. Sie fasziniert ihn, ihr offenes, lebensstrotzendes Wesen, ihre Unbekümmertheit, Ungezwungenheit und ihre Selbständigkeit, ihre Neugier, ihr Selbstbewußtsein und vor allem ihre Unbekümmertheit.
Er beobachtet sie. Gegenseitig legen sie sich Spuren, hinterlassen kleine Präsente.

Karl ist kein Protagonist, der einem ans Herz wächst. Die personale Erzählperspektive aus Sicht von Karl erlaubt dem Leser sein Handeln und seine Gedanken mitzuverfolgen. Seinen Blick zurück in seine Kindheit und Jugend, die kurz angerissen wird, seine Ängste und Gefühle bei seiner Rückkehr. Wir erleben, wie er Tanja beobachtet, seine Handlungen und Reaktionen. Dennoch muss sich der Leser selber fragen, was fasziniert ihn, den 26jährigen, an einem 8jährigen Mädchen ? Karl ist keiner, der überaus symphatisch erscheint, eher einer, der aufgrund seiner Kindheit versucht aus seiner gefühlsarmen Welt, seiner Verlorenheit, zu entkommen. Der erst lernen muss Gefühle zu entwickeln und sich dabei auf die Ebene des 8jährigen Kindes begibt und mit ihren Augen die Welt neu entdecken will.

Ein Buch, bei dem die Autorin auch mit den Gefühlen der Leser spielt. Die Handlung verändert sich mit seinen Protagonisten, es gibt im letzten Drittel einen Zeitsprung, die Protagonisten sind älter geworden und damit auch ihre Gefühle, ihre Handlungen, die nichts mehr vom Spielerischen haben. Jetzt sind es die großen Gefühle, die zugelassen und losgelassen werden.
Ich möchte hier aber nicht zu viel verraten.

Es ist ein Buch, über das man lange nachdenkt, dass nicht einfach in irgendwelche Schubladen passt, das aneckt, manchmal auch verstört, aber das auch berührt. Die Protagonisten im Buch haben viele Ecken und Kanten, sind nicht glattgeschliffen, sind ambivalent, sperrig.
Karl, der Erwachsene, in dem noch so viel Kind steckt, der sich selbst finden muss und doch immerzu den Spuren anderer folgt, ist für den Leser einerseits greifbar und vorstellbar, anderseits auch verstörend.
Tanja, das Mädchen, ihr Hintergrund bleibt blass, sie ist oft wie ein Frühlingshauch, mal hier und dann wieder weg.
Das Buch liest sich wie ein Tanz, mit schnellen Bewegungen, aber auch ausdrucksstarken Bildern.

Herrausragend bleibt diese gewaltige Sprache, die den Roman zu etwas ganz besonderem macht.