Rezension

Ausgrenzungen...

Kein menschlicher Makel - Ellinor Wohlfeil

Kein menschlicher Makel
von Ellinor Wohlfeil

Bewertet mit 5 Sternen

Diese Rezension bezieht sich auf das gleichnamige Hörbuch, das hier leider nicht gelistet ist!

Die Protagonistin Ruth wächst als Halbjüdin im nationalsozialistischen Deutschland auf. Als solche erfährt sie viel Hass und Ausgrenzung. Alles, was sie möchte, ist dazugehören. Sie gibt nicht auf und kämpft sich durch alle Widrigkeiten während der Schulzeit, ihrer Ausbildung und auch später im Berufsleben. Diese Geschichte hebt sich von anderer Literatur ab, welche die nationalsozialistische Zeit behandelt. Geht es doch auch um die Frage, wie bedeutend es ist, unsere Identität zu finden.

Ellinor Wohlfeil ist heute 92 Jahre alt und berichtet, wie in der Leserunde zu diesem Hörbuch zu erfahren war, in diesem Buch von ihrer eigenen Lebensgeschichte kurz vor bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland. Etwas mehr Distanz zu sich schafft die Autorin, indem sie für den Hauptcharakter in dieser Erzählung den Namen einer anderen Frau wählt - Ruth. Durch die Vorgabe eines Interviews, bei dem der Interviewer selbst aber tonlos bleibt und nur seine Beobachtungen schildert, wenn die Erinnerungen Ruths stocken, scheinen die Geschehnisse noch weniger mit Ellinor Wohlfeil persönlich in Zusammenhang zu stehen. Dennoch werden die Rückblicke in die Vergangenheit so eindringlich geschildert, erscheinen die Gefühle und Gedanken derart intensiv, dass beim Hören zwangsläufig die Idee auftaucht, dass es sich hier um die Erinnerungen der Autorin selbst handelt.

"Gott schuf den Weißen, Gott schuf den Schwarzen. Aber der Teufel schuf das Halbblut."

Ellinor Wohlfeil lebt. Sie hat den Nationalsozialismus überlebt, und das als Halbjüdin, was alles andere als wahrscheinlich war, wie wir wissen. Dennoch schreibt sie sich mit diesem Buch ihre Erinnerungen von der Seele, denn auch als Überlebende kann sie sagen, dass es hart war. Nein, sie war in keinem Ghetto und auch in keinem Konzentrationslager. Aber auch sie hat ihre Geschichte, die gehört werden will. Denn das eine Schicksal kann nicht gegen ein anderes aufgewogen werden.

"Aber ich habe ja vom Kindesalter an immer in dem Gefühl gelebt, dass mir alle Türen verschlossen sind, dass ich gegen Mauern anrennen muss, wo andere freien Zugang haben, dass die Chancen, die andere ganz selbstverständich wahrnehmen, mir verweigert werden."

Ruth, so bleibe ich denn nun beim Namen, den die Autorin für diese Erzählung gewählt hat, erlebt als junges Mädchen, wie ihr jüdischer Vater abgeholt wird und die Mutter mit ihr und ihrem Bruder plötzlich alleine dasteht. Ruth geht zur Schule und darf dort auch bleiben bis zu ihrem Abschluss, auch keine Selbstverständlichkeit zu der Zeit. Sie erlebt viel Fürsprache von einzelnen Lehrern, auch vereinzelte Freundschaften bleiben Ruth erhalten, und doch erlebt sie häufig, dass sie als Mensch zweiter Klasse behandelt wird. Die Mitschüler, die sie zunehmend meiden, die verweigerte Sportauszeichnung, obwohl die Leistung erbracht wurde, die weggenommene Hauptrolle in einem Schultheaterstück, später auch die Unmöglichkeit, den heißbegehrten Schauspielberuf zu ergreifen - Stationen einer Demütigung.

"Alle Farben verlieren ihre Leuchtkraft, sie sind wie gebrochen. Das Lachen verstummt. Eine tiefe Traurigkeit geht durch mich hindurch."

Ellinor Wohlfeil schreibt in überaus leisen Tönen, dabei jedoch so eindringlich, dass  sich die Betroffenheit beim Hören unweigerlich einstellt. Die geschilderten Geschehnisse und die emotionalen Reaktionen Ruths sind hautnah spürbar, und ja - so wäre es mir in vergleichbaren Situationen auch ergangen. Die Autorin schaffft ein Bewusstsein dafür, was es bedeutet, als sensibler Mensch jahrelang solchen Demütigungen ausgesetzt zu werden. Die Traurigkeit, die Ohnmacht, die Angst. Und es wird deutlich, dass sich diese Spuren durch ein ganzes Leben ziehen - bis ins hohe Alter hinein. Bis heute lebt Ruth mit depressiven Gefühlslagen und der Angst, etwas falsch zu machen oder sich zu blamieren. Und ein Stück Verbitterung ist auch zu spüren.

Aber Ruth ist innerlich auch gewachsen. Obschon sie schließlich gegen ihren Willen eine naturwissenschaftliche Ausbildung zur Technischen Assistentin absolviert, rettet ihr dieser ungeliebte Beruf schließlich das Leben. Und auch die Zeit ohne Eltern in Berlin bei einer Tante und einem Onkel verhilft Ruth zusehend zur Reife. Sie übernimmt Verantwortung, und als sie schließlich nach Kriegsende in ihre Heimatstadt zurückwill, zeigt sie sich überaus mutig bei der Flucht aus dem Ostsektor. Bei aller Bitternis hat Ruth in der schlimmen Zeit des Nationalsozialismus auch ein großes Maß an innerer Stärke gewonnen.

"Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich frei hätte entscheiden können?"

Die liebevolle Inszenierung des 132minütigen Hörbuchs hat mir sehr gefallen. Neben einer einfühlsamen Lesung von Birgit Arnolds gab es hier immer wieder auch kleine Einsprengsel von musikalischer Untermalung - einige Akkorde Klavier oder Streicher, meist in Moll gehalten - die die Schilderungen passend unterstichen und die Eindringlichkeit noch verstärkten.

Im Rahmen der Leserunde erfuhren wir zudem, dass es allein dem Engagement der Sprecherin Birgit Arnolds zu verdanken ist, dass es diese Hörbuch-Version überhaupt gibt. Als der ursprüngliche Verlag in finanzielle Schwierigkeiten geriet, stellte er die Produktion ein. Hätte Birgit Arnolds sich nicht entschieden, das Hörbuch selbst zu verlegen und die Nutzungsrechte hierfür aufzukaufen, wäre das Projekt im Sande verlaufen. Ein solch großes Engagement finde ich bewundernswert.

Alles in allem ist dies jedenfalls ein Hörbuch, dem ich viele Hörer wünsche. Denn auch dies ist ein 'Buch gegen das Vergessen' - von einem der letzten Zeitzeugen.

© Parden