Rezension

Außergewöhnliche und kreative Adaption

Alice = Alice - Maxi Schilonka

Alice = Alice
von Maxi Schilonka

Bewertet mit 4 Sternen

Inhalt
Seit der Scheidung ihrer Eltern leben die Zwillinge Alice und Scarlett in getrennten Wohnungen, gehen an verschiedene Schulen und führen separate Leben. Eine Tragödie führt die zwei Hälften der Familie wieder zusammen: Scarlett liegt im Koma, nachdem sie aus dem Fenster gefallen ist. So lautet zumindest die offizielle Version. Die Ärzte glauben jedoch, dass es sich um einen Selbstmordversuch handelt. Alice vermutet dasselbe, weshalb sie in die Rolle ihrer Schwester schlüpft und sich in deren Schule und in ihren Freundeskreis einschleust. Hat einer von ihnen etwas mit ihrem Unfall zu tun? 
Auf der Suche nach Spuren findet Alice in Scarletts Zimmer Zeichnungen einer fantastischen Welt, die der Schlüssel zu ihrem Unfall zu sein scheinen. Mit deren Hilfe kann Alice in Scarletts Unterbewusstsein reisen, wo sie auf skurille Figuren wie eine Grinsekatze, einen Hutmacher, einen märzhasen und eine Teegesellschaft trifft. Je häufiger Alice die Welt betritt, desto besser erkennt sie die Verbindungen zur Realität. Vielleicht erwacht Scarlett aus ihrem Koma, wenn Alice sie im Wunderland rettet. 

Meinung
Bereits am Klappentext merkt man, dass "Alice = Alice" nicht einfach bloß eine moderne Neuerzählung von "Alice im Wunderland" ist. Maxi Schilonka bettet Lewis Carrolls Geschichte geschickt in eine Art Contemporary-Roman mit Mystery-/Fantasy-Elementen ein, bei dem der Schwerpunkt auf der “Detektivarbeit“ der jugendlichen Protagonistin liegt. Auf so ein Crossover muss man erst einmal kommen!
Der Roman beginnt bereits spektakulär mit Scarletts Sturz aus dem Fenster. Gerade weil mir als Leserin sämtliche Informationen fehlten, war ich sofort neugierig. Man fragt sich sofort, was geschehen ist, dass Scarlett an diesen Punkt gelangt ist. Nach dem Prolog wechselt die Perspektive zu ihrer Zwillingsschwester Alice, die fortan die einzige Erzählstimme bleibt. Erfrischend fand ich, dass hier nicht von dieser magischen Verbindung die Rede ist, die Zwillingen meist nachgesagt wird. Alice und Scarlett mögen zwar gleich aussehen und auch häufig miteinander telefonieren, aber sie sind auch grundverschiedene Persönlichkeiten und ihre Beziehung ist nicht so eng, dass sie wissen, was die andere gerade denkt, tut oder fühlt. Dass Alice Scarlett dennoch liebt, wird daran ersichtlich, wie sehr sie sich um sie sorgt. Nicht nur der Sturz selbst, sondern auch Scarletts verändertes Äußeres (starker Gewichtsverlust, andere Haar- und Augenfarbe) schockieren sie. Bei ihr schrillen sämtliche Alarmglocken, denn sie glaubt, Scarlett wäre vielleicht von ihren Mitschülern gemobbt worden. Deshalb fasst sie den Entschluss, verkleidet als Scarlett undercover in ihre Schule zu ermitteln. An dem Punkt war ich etwas zwiegespalten: Einerseits fand ich es gut, dass Schilonka den Entscheidungssprozess abgekürzt und gleich den Stein ins Rollen gebracht hat. Andererseits war es doch merkwürdig, wie wenig ihre Eltern gegen Alice' Plan protestiert haben und ein polizeiliches Eingreifen scheinbar gar nicht in Erwägung gezogen wurde. Das ist jedoch nur ein minimaler Kritikpunkt meinerseits.
Der Hauptteil ist nicht weniger ereignisreich wie die Einleitung. Erstens muss sich Alice mit Scarletts Umfeld vertraut machen, zweitens muss sie immer auf der Hut sein, dass ihre Tarnung nicht auffliegt (woran sie gleich am ersten Tag kläglich scheitert) und muss möglichst unauffällig nach Hinweisen und Anhaltspunkten suchen. Durch die Reise in Scarletts Unterbewusstsein (aka das Wunderland) machen ihre Ermittlungsarbeiten einen gewaltigen Sprung nach vorn. Hier kommen dann die fantastischen Elemente ins Spiel. Alice durchläuft die verschiedenen Stationen (Schrumpfszene, Teeparty, Spiel mit der Herzkönigin usw.) und begegnet den gleichen Figuren (Grinskatze, Hutmacher, Märzhase, Raupe usw.), die aus Lewis Carrolls Geschichte bekannt sind. Schilonkas Eigenleistung daran ist, dass sie alles, was im Wunderland geschieht, mit der realen Welt verknüpft. Zum Beispiel hat jeder Charakter in der Fantasiewelt einen Gegenpart im RL. Genau das macht die Adaption so spannend. All die Elemente, die einen als Kind früher so fasziniert und ins Staunen versetzt haben, werden neu interpretiert und erhalten im Kontext der Handlung eine ganz neue Bedeutung. Somit wurde es für mich als Leserin eine ganz andere Art von Entdeckungsreise, bei der Bekanntes in neuem Licht dargestellt wird. Ebenso wie Alice versucht man als Leser, das Knäuel zu entwirren - ein wenig Denkarbeit ist also auch nötig. Es gab zwar ein paar Stellen, die ich als etwas schwächer empfunden habe als andere, aber meiner Meinung nach kann man nicht von einem Roman erwarten, dass absolut jede Passage dramatisch und/oder emotional aufgeladen ist. Insgesamt war das Spannungsniveau konstant im oberen Bereich. Besonders das Ende ist Schilonka wunderbar gelungen. Die Enthüllung, wer sich hinter der Herzkönigin verbirgt, kam für mich überraschend, was bei einer solchen Story ein großer Pluspunkt ist.
Etwas gehadert habe ich mit dem inkonsistenten Erzählstil. Manchmal schleichen sich einige altmodische Formulierungen in die ansonsten moderne Ausdrucksweise. Ich weiß nicht genau, ob das auf den Einfluss der Originalgeschichte zurückzuführen ist oder einfach Schilonkas Schreibstil ist, jedenfalls hat mich das zu Beginn irritiert. Man gewöhnt sich allerdings mit der Zeit daran.
In Bezug auf die Akteure habe ich wenig zu bemängeln. Obwohl der Fokus eindeutig auf Alice liegt und man Scarlett nie in Aktion erlebt (schließlich liegt sie im Koma), bekommt man doch ein gutes Gespür für ihre Person. Getreu dem Motto "Zeig mir deine Freunde und ich sag dir, wer du bist" lernt man das meiste über Scarlett durch die Erzählungen ihres unmittelbaren Umfeldes (dass man sie als "Freunde" bezeichnen kann, sei mal so dahingestellt). Scarlett lässt sich wohl am besten als Alphaweibchen beschreiben: zielstrebig, charismatisch und auch etwas arrogant und manipulativ. Sie hat bei mir nicht gerade Sympathien geweckt. Alice war quasi die andere Seite der Medaille: deutlich bescheidener, zurückhaltender und bodenständiger und damit um einiges angenehmer. Die ein oder andere Figur wurde vielleicht etwas bei der Ausgestaltung vernachlässigt, aber in Anbetracht der Länge der Geschichte fand ich das weniger problematisch.

Fazit
Diese Adaption von "Alice im Wunderland" hat meine Erwartungen definitiv übertroffen. Durch die Einbettung in den Ermittlungskontext bekam die Originalgeschichte einen ganz anderen Sinngehalt und die Richtung, die Schilonka eingeschlagen hat, hat mir definitiv gefallen. Die Autorin hat mit diesem Werk sehr viel Kreativität und Einfallsreichtum bewiesen, wodurch Fans von Adaptionen jeder Art (wie ich) voll auf ihre Kosten kommen.

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