Rezension

bedrückend, aber das Besondere fehlt

Was fehlt, wenn ich verschwunden bin
von Lilly Lindner

Bewertet mit 4 Sternen

„Sie ist erst vierzig, aber sie sieht aus, als wäre sie schon neunundneunzig – das ist das Alter, das auf Brettspielen als obere Begrenzung angegeben ist. Danach ist man zu alt für Spiele, dann beginn der Ernst des Lebens.“ (Seite 55)

Die 16-jährige April muss wegen Magersucht in eine Klinik. Da ihre Schwester Phoebe sie furchtbar vermisst, schreibt sie April regelmäßig Briefe und erzählt von aktuellen Erlebnissen und Erinnerungen an gemeinsame Tage. Brief für Brief, auch wenn sie keine Antwort erhält...
Dies ist eins dieser Bücher, die sich nur schwer in Worte fassen lassen und zu denen es nahezu unmöglich ist, seine Meinung und Gefühle zu begründen, ohne das Buch komplett auseinander zu nehmen.
Am Anfang war ich skeptisch, ob das Briefformat mich packen kann, doch Phoebe mit ihrer  besondern Art konnte mich erst mal für sich einnehmen. Es passiert eigentlich nichts, trotzdem fliegen die Seiten zu Beginn nur so dahin. Phoebes Worte sind faszinierend und zugleich beängstigend. Immer wieder frage ich mich, wie alt dieses Kind sein mag, denn auf der einen Seite weiß sie viele Dinge noch nicht, auf der anderen Seite ist sie sehr philosophisch und spielt mit der Sprache, verdreht sie so lange, bis etwas völlig Neues herauskommt.

„Ich muss auch mit meiner Angst umgehen.
Umgehen – also um die Angst herum gehen.
Aber wenn Mama und Papa das schon nicht schaffen, und die sind erwachsen, dann verlaufe ich mich doch auf jeden Fall. Und wenn ich verschwunden bin, wer sucht nach mir?“ (Seite 60)

Irgendwann kam aber der Punkt, an dem ich dachte, dass nun Zeit für etwas anderes ist, denn auf Dauer wurden diese einseitigen Briefe auch anstrengend, weil es in der Handlung nicht voranging. Aber ich bekam meine Wende... Die Stimmung schlägt im zweiten Teil etwas um. Es wurde noch emotionaler und bedrückender.
Schade war allerdings, dass sich die zwei Teile sprachlich und stilistisch nicht sehr voneinander unterscheiden.
Das Thema des Buches ist ernst, wobei Aprils Krankheit nicht in all ihren Einzelheiten erläutert wird. Viel mehr geht es um die tiefe Verbindung zwischen den zwei Schwestern und die eher komplizierten Beziehung zu den Eltern. Man bekommt den Eindruck, diese würden nur schreien oder flüchten – ein Einblick in das Gefühlsleben der Erwachsenen wäre daher eine hilfreiche Ergänzung gewesen, um dieses extrem negative Bild, das in Phoebes Erzählung entsteht, besser einschätzen zu können.
Trotz ernster Thematik und emotionaler Momente konnte mich das Buch nicht völlig in seinen Bann ziehen. Der erste Gedanke nach dem Lesen des letzten Satzes war: Irgendwas fehlt... Das Buch war gut, es war oft traurig, aufgrund Phoebes Wortspielen auch manchmal witzig. Es macht wütend und es ist bedrückend, aber irgendwas fehlt. Ich kann es nur schwer in Worte fassen: Die Darstellung der Eltern war mir zu einseitig negativ. Es werden erschütternde Ereignisse einfach so in kurzen Nebensätzen geschildert, was zwar schockiert, aber den tiefen Emotionen gar keinen Raum lässt. Beide Teile sind sprachlich zu ähnlich, was aufgrund Phoebes verdrehter Schreibweise eigentlich nicht sein dürfte...
Was fehlt, wenn ich verschwunden bin ist keine leichte Kost. Die ernste Thematik sorgt oft für bedrückende Lesemomente, die an Intensität zunehmen, wenn man weiß, dass das Buch autobiographische Züge enthält. Lilly Lindner spielt mit der Sprache und ihre Wortverdrehungen regen oft zum Nachdenken an. Der abschließende Wow-Effekt bleibt zwar aus, – aber es kann nicht schaden, vor dem Lesen Taschentücher bereitzulegen.