Rezension

Bedrückende Philosophie des Seins

Der chinesische Sommer
von Hong Ying

Bewertet mit 3.5 Sternen

Eine Studentendemonstration wird auf dem Platz des Friedens in Peking blutig vom Militär niedergeschlagen. Die junge Dichterin Lin Ying entkommt nur knapp. Mit letzter Kraft erreicht sie die Wohnung ihres Freundes Cheng Yus, wo sie sich Sicherheit, Trost und Ruhe verspricht. Doch sie überrascht ihren Geliebten im Bett mit der Frau, die er eigentlich für sie verlassen wollte. Zum wiederholten Male von Männern ausgenutzt und betrogen, strebt sie nun nach Emanzipation und dem Recht auf (sexuelle) Selbstbestimmung, wobei sie immer mehr mit den gesellschaftlichen Konventionen und dem Gesetz bricht, bis sie schließlich verhaftet wird.

Poetisch und ausdrucksstark schildert Hong Ying in ihrem internationalen Debüt-Roman „Der chinesische Sommer“ die Geschehnisse nach dem „Tian’anmen-Massaker“ vom 3./4. Juni 1989. Die Protagonistin, traumatisiert durch diese Erlebnisse, versucht das Geschehene und den Verlust ihrer dabei zu Tode gekommenen Freunde zu verarbeiten. Bereits als Kind von ihren Eltern als Enttäuschung empfunden, sucht sie in dieser düsteren, bedrückenden Atmosphäre nach einem Sinn ihres Daseins und erlangt schlussendlich Selbsterkenntnis. Ihre charakterliche Entwicklung ist nachvollziehbar und deren Konsequenzen nur logisch. Dennoch wirken alle Akteure etwas farblos und platt. Während die Frauen nach freier Liebe und Gleichstellung streben, ihr eigener persönlicher Widerstandskampf, versinken die Männer in Selbstaufgabe und Selbstmitleid. Auch das Ende ist nicht ganz durchdacht und enttäuscht etwas. Der sonst so harmonische Redefluss wird oftmals von den abrupten Passagen aus der Vergangenheit unterbrochen, die nicht alle unbedingt notwendig für die Entwicklung der Geschichte oder der Protagonistin sind. Vom Sprachstil kann der Roman leider nicht mit „Die chinesische Geliebte“ mithalten. Dessen ungeachtet ist er lesenswert und bietet einen guten Einblick in die chinesische Gesellschaft dieser Zeit, die grundlegend für das heutige China ist.