Rezension

Berührend

Das Mädchen mit dem Fingerhut - Michael Köhlmeier

Das Mädchen mit dem Fingerhut
von Michael Köhlmeier

 

Der Eindruck von Verlorenheit wird bereits im Buchcover zum Ausdruck gebracht: ein Mädchen mit großen traurigen Augen sieht den Leser eindringlich an. Hinter dem Kind: nichts, das etwas über sie oder ihren Aufenthalt aussagt, nur neutrale weiße Gardinen vor einem kleinen Fenster.

Ebenso „weiß“ wie dieser Hintergrund ist die Vergangenheit des sechsjährigen Mädchens, das  allein durch eine große europäische Stadt irrt, ohne  die Landessprache zu sprechen oder selbst verstanden zu werden.

Wo kommt es her, wer ist es eigentlich? Sie weiß es selbst nicht, sondern tut, was ihr der „Onkel“ aufträgt: an einem Marktstand um Essen betteln. Doch eines Tages wartet „Yiza“, wie sich Kind nennt, vergeblich darauf, dass er sie wieder abholt, und läuft ziel- und planlos durch die Winterkälte der fremden Stadt, bis sie aufgegriffen und in einem Kinderheim untergebracht wird. Hier trifft sie auf den vierzehnjährigen Schamhan, der sich in ihrer Sprache mit Yiza verständigen kann und ihr einen Fingerhut schenkt, ein kleiner Schatz und Trost für sie. Unter Schamhans Führung fliehen die beiden gemeinsam mit dem etwas jüngeren Arian aus dem Kinderheim …

In einer schlichten, einfachen Sprache und Satzbau , die dem kindlichen Gemüt der kleinen Yiza entsprechen,  erzählt der Autor von dieser kleinen Gruppe elternloser Kinder am Rande der Gesellschaft, die sich zusammengetan hat, um wenigstens ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen: Essen, Schlafen, Trinken und sich gegenseitig ein bisschen Wärme zu geben.

Sehr sachlich beschreibt er den täglichen Überlebenskampf der Kinder, wie sie versuchen, sich möglichst unauffällig durchzuschlagen und dennoch aufgegriffen werden.

Gerade die Einfachheit der Sätze und knappen Formulierungen lässt ihre Bedeutung intensiver wirken und ruft ein starkes Mitgefühl des Lesers hervor.

Die nüchterne Feststellung „Sie ist ein Liebling. Ich bin kein Liebling. Und du bist auch kein Liebling“  des im Straßenleben erfahrenen Schamhan enthält viel Bitterkeit. Ja, noch ist Yiza in dem „niedlichen“ Alter, in dem ihr trauriger Anblick die Herzen der Erwachsenen anrührt.

Was aber geschieht, wenn sie älter ist, so wie Arian und Schamhan? Was wird aus ihr?

Das Ende ist offen; es bleibt dem Leser überlassen, darüber nachzugrübeln.