Rezension

Bewegender autobiographischer Roman

Die Erfindung des Lebens - Hanns-Josef Ortheil

Die Erfindung des Lebens
von Hanns-Josef Ortheil

Bewertet mit 5 Sternen

Staunend erfährt der Leser von einer Kindheit ohne Sprache. Der fünfjährige Johannes ist stumm, seine Mutter ist stumm. Wie es dazu kam, wissen wir zunächst noch nicht so genau, aber was wir wissen, ist dass die sprachlose Mutter und ihr sprachloser Sohn eine enge Symbiose bilden, einen Cocon, der schützt und gleichzeitig die Entfaltung des hochintelligenten Jungen behindert, der sehr genau begriffen hat, dass ihn seine Umwelt bereits zum Idioten abgestempelt hat. Und plötzlich und völlig unerwartet ist es da, das Klavier. Und holt zum unerhörten Befreiungsschlag aus. Auf einmal hat dieser hilflose kleine Junge ein Ziel, übt wie besessen und entpuppt sich als hochbegabtes Musiktalent. Aber dies ist erst der erste Schritt auf dem langen und mühsamen Weg in die Freiheit. Es wird sich zeigen, ob es dem verständnisvollen und kreativen Vater auch gelingen wird, seinem Sohn den Weg zum Erlernen der Sprache zu ebnen. Auf jeden Fall kein leichter Weg, denn der Kopf dieses Jungen funktioniert anders als gewöhnlich. Einen ausführlichen Einblick in seine Gedankengänge zu bekommen, ist absolut faszinierend, zumal mehr und mehr klar wird, dass es sich bei dem Roman eigentlich um Autobiographie, also um eine wahre Geschichte handelt. 

Es ist ein Buch über die menschliche Sprache, faszinierend wie noch kein anderes Buch zu diesem Thema, das ich je gelesen habe. Als der junge Mann Jahre später in Rom angekommen ist und beschreibt, wie er entgegen seinen früheren Ängsten völlig mühelos und natürlich in die italienische Sprache hineinfindet, halte ich den Atem an. Es ist komplett faszinierend, wie Ortheil mit seiner einfachen und scharfen Beobachtungsgabe in wenigen Worten die Unterschiede zwischen der italienischen und der deutschen Sprache auf den Punkt bringt. Wieder und wieder lese ich ehrfürchtig diesen Absatz. Schlicht und genial. So muss gute Literatur sein. 

Kaum ein moderner Roman kommt ohne Zeitsprünge aus. Vielleicht dient dieses Mittel hier auch dazu, durch die Sprünge in das gegenwärtige Erwachsenendasein des Autors die Vergangenheit zu verifizieren. Auf jeden Fall ist dieser Wechsel der beiden Zeitebenen hier gut auf einander abgestimmt und verdichtet sich gegen Ende folgerichtig und rund. 

Eine Autobiographie, die zurecht ein Roman ist. Denn wenn die Rezension bei einer gewöhnlichen Biographie den Schluss verrät, stört sich kein Mensch daran. Hier aber werde ich schön stillschweigen, denn ich möchte den nächsten neugierigen Leser nicht um diesen wunderbaren Moment bringen.

Kommentare

Naibenak kommentierte am 06. Januar 2017 um 08:02

Wow, eine tolle Rezi! Man spürt deine Begeisterung in jeder Zeile. :-)
Und ich muss sagen, das Buch gehört auf meine WL- unbedingt!!! Und weil es da sowieso schon ist, bleibt es dort! Perfekt :-) Danke!

Steve Kaminski kommentierte am 01. Mai 2017 um 23:19

Die Rezension weckt großes Interesse für das Buch; ich habe von Ortheil noch nichts gelesen, werde das Buch aber mal auf meine Wunschliste setzen.