Rezension

Bitterzarte "Dystopie" mit Retro-Flair

Bitterzart - Gabrielle Zevin

Bitterzart
von Gabrielle Zevin

*Worum geht's?*
2083, New York: Süßigkeiten, aber auch Kaffee, Wasser und andere Rohstoffe sind schon lange nicht mehr selbstverständlich. Vieles von ihnen ist sogar verboten und nur noch von korrupten Mafiosi auf dem Schwarzmarkt zu bekommen!
Nach der kaltblütigen Ermordung ihrer Eltern ist die sechzehnjährige Anya Balanchine das Oberhaupt des Balanchine-Clans, der mit illegalem Schokoladenhandel sein Geld verdient und dabei jeden Tag Leben aufs Spiel setzt. Anya tut alles, um ihre geliebten Geschwister und ihre kranke Großmutter aus den dunklen Machenschaften ihrer Familie herauszuhalten, aber das ist viel leichter gesagt als getan!
Als Anya Win, den Sohn eines Staatsanwalts, kennen- und lieben lernt, muss sie den Tatsachen ins Auge blicken: Ihre Gefühle bringen nicht nur sie selbst, sondern ihre gesamte Familie in große Gefahr. Sie muss sich entscheiden - für Win oder ihre Familie...

*Kaufgrund:*
Cover und Klappentext haben mich auf den ersten Blick angesprochen - und welcher Leselurch kann schon Nein sagen, wenn ein Buch "Lies mich!" schreit?

*Meine Meinung:*
"Bitterzart", der Auftakt einer neuen Trilogie aus der Feder von Gabrielle Zevin, ist vor allem zweierlei: anders und speziell. Die Autorin hat sich für ihre neue Reihe ein schreckliches Szenario ausgedacht. In knapp 70 Jahren sind Genussmittel wie Schokolade oder Kaffee verboten und nur noch illegal auf dem Schwarzmarkt zu erwerben. Aus dem Handel mit der leckeren Süßigkeit hat sich im Laufe der Jahre ein ganzes Mafia-Unternehmen gebildet, das zwar mit süßen Waren handelt, dem Paten in Sachen Skrupellosigkeit und Gefahr aber mächtig Konkurrenz machen kann. Leonyde Balanchine, das ehemalige Oberhaupt des Balanchine-Clans, hat dies mit einer Kugel in den Kopf zu spüren bekommen - und Anya, seine Tochter, steckt mit ihren jungen 16 Jahren mitten in den illegalen Machenschaften der Mafia, obwohl sie doch nur den Rest ihrer Familie beschützen will...

Eine Welt ohne Schokolade, in der die Mafia eine entscheidende Rolle spielt - klingt gut, interessant, vielversprechend? Ist es auch! "Bitterzart" konnte mich bereits während der ersten Seiten begeistern und als Fan gewinnen. Zwar wurde relativ schnell klar, dass mich nicht das erwarten würde, was ich zuvor gedacht hätte, aber mit seiner speziellen Art, seinen innovativen Ideen und seiner Andersartigkeit hat der Roman einen ganz eigenen Charme. Mir persönlich hat Zevins Einzigartigkeit gefallen, aber wer mit zu festen Erwartungen an "Bitterzart" herangeht, läuft Gefahr, enttäuscht zu werden. Dieses Buch hat hohes "Polarisierungspotenzial": Die einen werden es lieben, die anderen hassen!

Obwohl ich mich zu der ersten Gruppe zähle, habe auch ich ein paar Kritikpunkte in dem Trilogieauftakt gefunden. Zevin hat viele Ideen, beginnt viele Handlungsstränge und stellt einige Charaktere vor, bleibt bei allem aber zu blass. Der Mafia-Teil der Geschichte bekommt nicht so viel Aufmerksamkeit, wie er sollte, die verschiedenen Handlungsstränge wirken zu unausgeglichen und leider bleiben einige Figuren zu oberflächlich. Insgesamt kann man den Auftaktscharakter des Romans beim Lesen deutlich spüren: Viele Fragen, wenig Antworten, viele Probleme, wenig Lösungen. Man wird vor allem von der eigenen Neugierde zum Weiterlesen gezwungen, nicht von der Spannung, und wird auf den letzten Seiten nur mit einem "Das war erst der Anfang"-Gefühl belohnt. Hier fehlte mir ein klarer roter Faden durch die Geschichte. Da mich das gesamte Setting sehr einnehmen konnte, kann ich über diese Punkte (wenn auch nicht gänzlich!) hinwegsehen und mich umso mehr auf die Fortsetzung "Edelherb" freuen. Wer damit aber seine Probleme haben könnte, sollte lieber erst abwarten, bis der zweite Band erhältlich ist.

Die sechzehnjährige Anya Balanchine ist die Protagonistin der Geschichte und trotz ihrer jungen Jahre bereits eine toughe Frau. Sie hat früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen, und kämpft seit der Ermordung ihres Vaters jeden Tag für die Sicherheit ihrer Familie. Nichts auf der Welt bedeutet ihr mehr als ihre Geschwister! Dank ihres Mutes, ihrer Kraft, ihres aufrichtigen Glaubens an Gott (sie ist strenge Katholikin!) und ihres Familiensinns habe ich Anya sehr schnell schätzen gelernt und ins Herz geschlossen. Als Win sie kennenlernt und die Liebe in ihr Leben tritt, vollzieht Anya eine Entwicklung, die angesichts ihrer Alters zwar verständlich ist, mich aber ein wenig enttäuschte und an ihr zweifeln ließ. Plötzlich setzt Anya ihre Prioritäten neu, wird nachlässig, unvorsichtig und verliert das Wesentliche aus den Augen. Nun ist es nicht mehr bloß ihr Kopf, der entscheidet, sondern auch ihr Herz. In einigen Momenten der Geschichte hätte ich Anya gerne vor den Risiken gewarnt, die sie durch die rosarote Brille nicht sehen kann. Letztendlich wird Anya dies meist aber zum Glück selbst bewusst, sodass sie doch noch die richtigen Entscheidungen treffen kann.

Sie ist die Tochter des ermordeten Mafia-Oberhauptes, er ist der Sohn eines bedeutenden Staatsanwalts. Anya und Win verbindet eine Liebe, die nicht sein sollte, die sie und ihre Familien in große Gefahr bringen kann. Zunächst ist es nur eine Schwärmerei, eine unleugbare Anziehung zwischen den beiden, die die Luft zum Knistern bringt. Doch schon bald sind ihre Gefühle zu groß, um ignoriert zu werden, zu stark, um unterdrückt zu werden. Anya und Win sind ein tolles Pärchen, das sich einerseits großartig ergänzt und unterschiedlicher kaum sein könnte, andererseits aber so ähnlich ist, dass sie sich schlichtweg von einander angezogen fühlen müssen. Mit "Romeo und Julia", mit denen sie auf dem Klappentext verglichen werden, können sie zwar nicht mithalten, aber ihre Liebesgeschichte - die ausnahmsweise mal ohne einen dritten Mitspieler auskommt - hat mir trotzdem gut gefallen. Ich habe ihnen ihre wankenden, teils impulsiven und aufrichtigen Gefühle glauben und auch ein wenig mitschwärmen können.

"Bitterzart" wird zwar als Dystopie vermarktet, liest sich aber nicht wie eine. Die typische Dystopie-Atmosphäre kommt hier nicht auf. Stattdessen fühlt man sich eher ein paar Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt. Alles in "Bitterzart" versprüht ein gewisses "Retro-Flair", obwohl es viele Jahre in der Zukunft spielt. Dieser Roman protzt nicht mit bitteren Zukunftsvorstellungen und setzt lieber zarte Akzente wie das Schokoladen- und Kaffeeverbot. Mir gefällt Zevins Idee einer leicht rückläufigen Zukunft sehr gut, aber im Genre der Dystopien mag sich der Roman nicht recht heimisch fühlen.

Gabrielle Zevin hat nicht nur einen angenehmen und eindrucksvollen Schreibstil, der einen durch die Seiten fliegen lässt, auch ihre Erzählweise ist besonders. Protagonistin Anya erzählt ihre Geschichte nämlich selbst und verleiht ihr damit einen seltsamen, aber interessanten Reiz, der perfekt zu Anya passt. Mal spricht sie die Leser direkt an und gibt ihnen damit das Gefühl, mit ihr zu einem verbotenen Kaffee zusammenzusitzen, mal lesen sich einige Szenen wie Tagebucheinträge, mal findet man aber auch nur kurze, prägnante Stakkato-Sätze, als hätte Anya in diesem Moment nicht die Zeit oder die richtigen Worte gefunden. Anya erzählt ihre Geschichte eben so, wie sie gerade möchte, und kann ihre Gedanken und Gefühle auf diese Weise sehr eindringlich vermitteln.
Besonders gut haben mir die Passagen gefallen, in denen sich Anya an die Anekdoten ihres Vaters erinnert, denn in ihnen steckt so viel Wahrheit, dass man sogar sich selbst in ihnen wiederfinden kann.

*Cover:*
Das Cover von "Bitterzart" kann mit seiner außergewöhnlichen Gestaltung und den tollen Farben den "Retro-Charme" der Geschichte perfekt einfangen. Endlich mal wieder ein Cover, das man gerne in die vorderen Reihen seines Regals stellen mag!

*Fazit:*
"Bitterzart" von Gabrielle Zevin, der Auftakt einer neuen Jugendbuchtrilogie, ist ein Buch, das polarisieren wird. Die einen werden den Roman um die Mafia-Tochter Anya mit dem einzigartigen "Retro-Flair", den innovativen Ideen und den tollen Charakteren lieben, die anderen werden sich über die blassen Handlungsstränge, die vielen offenen Fragen und die zu ruhige Spannung ärgern. Ich habe mich in das besondere Setting von "Bitterzart" absolut verliebt, habe die Figuren ins Herz geschlossen und mich von der Atmosphäre verzaubern lassen! Obwohl der Auftakt in einigen Punkten definitiv ausbaufähig ist, habe ich großen Spaß an Zevins besonderer Dystopie gefunden. Deshalb vergebe ich für "Bitterzart" zarte 4 Lurche.