Rezension

Brauch oder Bruch

Am Anfang war der Krieg zu Ende - Jan Böttcher

Am Anfang war der Krieg zu Ende
von Jan Böttcher

Bewertet mit 4 Sternen

~~(Titel nach S. 244)

Die Handlung beginnt damit, dass wir von einer Vater-Sohn-Beziehung aus Sicht des Vaters als durchgängiger Ich-Erzähler lesen – Benji ist vierzehn, pubertierend, die Eltern schwanken zwischen Laissez-faire und Regeln, der Sohn schwankt dazwischen, den Vater als peinlich zu empfinden, wie ein Kind vom Vater die Lösung aller Problem zu erwarten, zu trotzen oder sich zu entziehen. Dann wechselt der Fokus (wirklich?) über einen Freund Benjis namens Leka (für „Alexander“), der sich für einige Tage einquartiert, dann verschwindet. Der Vater Benjis begegnet Lekas Vater, Jakob – und macht sich mit Benji auf die Suche. Benjis Mutter ist die Albanerin Arjeta, ursprünglich mit ihrer Familie während des Jugoslawien-Konfliktes nach Deutschland geflüchtet, jetzt wieder wohnhaft in Kosova, das wir meist als Kosovo kennen. Es empfiehlt sich (ganz kurze) Recherche: Kosova hat sich unabhängig erklärt, Serbien versteht das Gebiet weiterhin als Teilregion. Die Bewohner sind zum großen Teil Albaner, natürlich mit regionalen Unterschieden.

Jan Böttcher schreibt über Zerrissenheit und Zugehörigkeit, über Fremde – über das Suchen?

Die Beziehung zwischen Jakob und Arjeta war von Anfang an nicht geprägt von großer Zukunfts-Hoffnung. Arjetas Leben ist in Deutschland das der Fremden, mit einem Vater, der mehr in der Wahrnehmung des fernen Krieges lebt. Wieder in der Heimat, läuft Arjeta durch die Straßen: „Ihre Kindheit suchte sie und wurde das Gefühl nicht los, dass die Kindheit bis gestern gewartet hatte, aber heute nicht mehr.“ S. 60 Der Ich-Erzähler- Vater von Benji ist Schriftsteller – hier wird eindeutig mit dem Leser aus Autorensicht gespielt, ab S. 47 wird der Leser sogar in unregelmäßigen Abständen direkt angesprochen:
„Bitte nicht, rief der Schriftsteller hinter ihm.
Ich verwahre die Briefe für dich, rief er.“ Anders als bei einigen anderen Büchern wird hier für mich keine künstliche Distanz aufgebaut, ich empfinde eher ein Gefühl von Authentizität, von Autobiographie-Haftigkeit.

Man liest vom Scheitern von Beziehungen, im Kleinen wie im Großen, bei den politischen Provisorien im Kosovo. Böttchers Personal wirkt realistisch – so sein möchte man als Leser trotzdem nicht. Alle handeln wie die Fliege, die dauernd gegen die Glasscheibe fliegt, nur wissen sie im Gegensatz zum Insekt meistens, dass dort kein Durchkommen ist. Jakob schickt dem Vater von Benji ein von ihm geschriebenes Computerspiel, bei dem man wählen kann zwischen dem Weg nach Norden, ohne Hindernisse und ohne Spielhandlung, oder dem Weg nach Süden – mit Spielaktion, aber einem zwingenden Tod der Spielfigur nach exakt je 5 Minuten. „Ja, Jakob hatte mir zeigen wollen, dass man auf dem nördlichen Korridor entlanggehen konnte, aber dass man dann alles verpasste, was Spielen wie Leben ausmachte. Denn erst zwischen Hindernissen begannen wir, an unsere bisherigen Wege zu denken, an Neugier und Ängste, Liebe und Kummer, wir dachten an die Wände, vor die wir gelaufen, und an die Menschen, denen wir noch rechtzeitig ausgewichen waren.“ S. 240

Jan Böttcher hat mit „Y“ so ein Buch geschrieben, das mehrere Bücher in einem ist. Dabei wechselt der Fokus zwischen tragischer Liebesgeschichte, Entwicklungsroman(en) und Einblick in den Kosovo, wobei mir die Haupthandlung das Thema Vater-Sohn-Konflikt/Familiengeschichte(n) zu sein scheint, man bemerkt das nur nicht sofort, weil nach dem Beginn mit Benji und seinem Vater die Handlung dann vermeintlich zu einer anderen (dem Liebesroman) wechselt. Sprachlich war ich angetan vom Buch, das sich zügig lesen lässt, häufig, aber nicht zu oft, bildhaft ist und auch ausreichend Denkansätze bietet; mich störte jedoch dieser mir nicht ausreichend klar erkennbare Fokus, wobei dieses Gefühl erst ab Teil II das erste Mal auftauchte (vorher wähnte ich mich in der Liebesgeschichte mit Fokus auf Jakob), dann wieder abflachte (mit der Konzentration auf die Sicht von Arjeta und die Gegenwart der vierzehnjährigen Söhne – ah, die andere Seite!), sich dann noch verstärkte - mit dem, mit Verlaub, Lamentieren des Autors über die Defizite seines eigenen Heranwachsens. Allerdings ist es für mich ein wenig „zu viel“ in einem Buch. Der Ich-Erzähler meckert über das Elternhaus in seinem Kleinbürgertüm, seiner Selbstgenügsamkeit, Sättigung und Selbstzufriedenheit; ohne Offenheit gegenüber der Fremde und den Fremden mangels Erfahrung. Er kontrastiert hier seine eigene Familiengeschichte mit der Realität der Kosovaren: „Was meine Großeltern hatten erleben dürfen, war der Wiederaufbau ganzer Industrien gewesen, eine Zeit, in der jede antidemokratische Regung von den Amerikanern rigide unterbunden wurde, einfach weil sie ein Interesse daran hatten, eine stabile Demokratie im Zentrum Europas zu schaffen.
Kosova 1999 war dagegen realpolitisch nicht mehr als ein Militärstützpunkt gewesen….“ S. 237

Zum Nachsinnen gefielen mir in diesem Zusammenhang die Parallelen zwischen Computerspiel und Leben, ebenso die Gedanken über das „Provisorium“ und den Bezug zum Romantitel, wobei es zwischenzeitig sogar zu einem inneren Frieden beim Vater Benjis kommt , als der seinen Sohn fragt:
„Empfindest du einen großen Unterschied zwischen Lekas Zuhause und unserem Zuhause?“
„Nein“
„Dachte ich mir“
„Ist das schlimm?“
„Alles andere als schlimm.“

In gewisser Weise empfand ich „Y“ als eine Art Antithese zu „Vom Ende der Einsamkeit“, weil die Hauptpersonen nach der Erfüllung in den Beziehungen suchen, sie hier aber von dem Gegenteil ausgeht, von der Fremde:
„Ich versuche ständig, mit der Fremde warm zu werden.
So, wie ich nicht anders kann, als mit der Wärme zu fremdeln.“ S. 246
diese letztendlich aber überall findet „Es gibt nämlich gar kein Defizit an Fremde. …. Weil Fremde immer schon da ist.“ S. 247
Wells Personal hofft immer auf ein halb volles Glas – Böttchers Figuren reiben sich an einem Glas, das einfach immer halb leer sein MUSS.