Rezension

Brillante Retrospektive einer freiheitsliebenden Femme Fatale

Die Spionin - Paulo Coelho

Die Spionin
von Paulo Coelho

Mata Hari: Jenseits des Mythos

Als Protagonistin seines neuesten Romans Die Spionin hat der brasilianische Bestsellerautor Paulo Coelho eine schillernde und undurchsichtige Frauenfigur gewählt, die ihren eigenen Mythos schuf und die Gesellschaft wie kaum eine andere polarisierte. Die Geschichte der niederländischen Hutmacher-Tochter Margaretha Zelle, die als exotische Tänzerin unter dem Künstlernamen Mata Hari (javanisch: Auge des Tages/Sonne) alle in ihren Bann zog und als glamouröse Kurtisane mächtiger Männer ein Luxusleben führte, ist ebenso abenteuerlich wie tragisch. Für die einen war sie die sinnliche Verkörperung eines unbezähmbaren Freigeistes und einer emanzipierten Frau, die nach ihren eigenen Regeln lebte und sich in einer von Männern dominierten Welt behauptete. Für die anderen war sie eine manipulative Lügnerin und Exhibitionistin, die sich auf der Bühne auszog und sich für Geld, Schmuck und teure Kleider prostituierte.

Lichtgestalt im Schatten

Doch wer bzw. wie war sie wirklich? Dass die Lichtgestalt hinter all dem Glanz ein Schattendasein fristete, scheint undenkbar. Hier setzt Coelho an und stellt auf seine ganz spezielle Weise die diversen Facetten des nebulösen Charaktermosaiks der Femme Fatale heraus. Mittels eines aus drei Teilen bestehenden fiktiven Briefromans erzählt er vom ungewöhnlichen Aufstieg und fatalen Niedergang der freiheitsliebenden Diva: Zum einen aus Sicht der Ich-Erzählerin Margaretha/Mata, die aus dem Gefängnis in einem Brief an ihren glücklosen Anwalt Maître Clunet ihr Leben Revue passieren lässt (Teil 1 und Teil 2) – zum anderen aus Sicht des zweiten Ich-Erzählers, ihres o.g. Verteidigers, der verzweifelt versucht, sie zu retten (Teil 3). Es ist ein bewegtes, aufregendes, gefährliches, aber auch oberflächliches Leben, an dem Coelho uns teilhaben lässt, für das die berühmte Schlüsselfigur am Ende den höchsten Preis zahlen muss.

Trauma und Flucht

Margaretha Zelles Lebensgeschichte beginnt zunächst recht beschaulich. Sie wurde 1876 im niederländischen Leeuwarden geboren, wo ihre Eltern eine Hutmacherei betreiben. Die erfolgreichen Börsenspekulationen ihres Vaters ermöglichen ihnen anfänglich eine sorgenfreie Existenz, die kleine Margaretha wächst rundum behütet auf. Als die Mutter jedoch krank wird und stirbt, ändert sich alles. Margaretha wird auf eine Schule in Leiden geschickt – dort wird sie ein traumatisches Erlebnis für immer verändern: Der Direktor der Schule vergewaltigt sie im Alter von 16 Jahren, und nichts ist mehr wie vorher. Sie beschließt, dem spießigen, kleinbürgerlichen Milieu zu entfliehen und sieht nur einen Ausweg aus ihrem Dilemma: Die Ehe mit einem adäquaten Mann, der ihr die Welt zu Füßen legt.

Alptraum einer Ehe

Und so antwortet sie auf eine Annonce des mehr als doppelt so alten Rudolph MacLeod, ein Offizier aus Niederländisch-Ostindien, der auch tatsächlich anbeißt. Sie heiratet ihn, zieht mit ihm nach Java und bekommt zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn, der jedoch auf tragische Weise ums Leben kommt. Ihre Ehe, von der sie sich so viel erhofft hatte, erweist sich als Alptraum: Ihr Mann trinkt, betrügt, schlägt und vergewaltigt sie. Zunächst erduldet sie alles, doch nach einem grausamen Erlebnis, das sie tief erschüttert, hat sie genug. Sie verlässt ihren Mann und ihre Tochter, um in Europa nochmals von vorne zu beginnen.

Schillernder Neubeginn

Margaretha erfindet sich neu, sogar ihren Namen legt sie ab. Sie weiß um ihre Wirkung auf Männer und strebt als geheimnisvolle Mata Hari eine Karriere als glamouröse orientalische Tänzerin in Paris an. Mit dramatischen Kostümen, opulentem Schmuck und sinnlichen Tänzen, an deren Ende sie sich vollständig entkleidet, setzt sie sich gekonnt in Szene und avanciert schließlich zum Star. Auftritte im Olympia und mit den namhaften Folies Bergères lassen sie zu einer – wenn auch skandalösen – Berühmtheit werden. Ihre Gönner – mächtige, reiche Männer aus Politik und anderen einflusssreichen Kreisen – geben sich die Klinke in die Hand und lassen sie im Luxus schwelgen. Doch wo bleibt das Glück? Der Liebe hat sie nach ihrer Vergewaltigung abgeschworen, Sex ist für sie nur Mittel zum Zweck. Für sie ist alles ein großes Spiel, sich selbst sieht sie als Kriegerin, die stets alles unter Kontrolle hat und nur gewinnen kann. Sie manipuliert Männer wie Frauen und bekommt am Ende immer das, was sie will. Auch ihren Mythos kreiert sie selbst: Die rätselhafte verführerische Exotin, um deren Vergangenheit sich viele Gerüchte ranken und die jeden auf geheimnisvolle Art in ihren Bann zieht.

Gefährliches Spiel

Doch als der Erste Weltkrieg ausbricht, wendet sich das Blatt. Mata wird von französischer und deutscher Seite animiert, als Spionin tätig zu werden. Nicht ahnend, in welche Gefahr sie sich begibt, erklärt sie sich – auf beiden Seiten – dazu bereit, obwohl sie in keiner Weise die Absicht hat, zu spionieren. Sie beschließt, lediglich Klatsch und Tratsch weiterzugeben, der ihr bei ihren Treffen mit den Mächtigen, Reichen und Schönen zu Ohren kommt. Aber sie unterschätzt ihre Gegenspieler, und so kommt es wie es kommen muss.: Man verhaftet sie als Doppelagentin wegen Hochverrats. Mata ist fest davon überzeugt, dass ihr nichts passieren kann und sich einer ihrer reichen Gönner bestimmt für sie einsetzt. Doch alle ziehen sich zurück, am Ende ist sie ganz auf sich allein gestellt. Nur ihr Verteidiger Clunet setzt alles daran, ihr Leben zu retten, aber Matas Hang zur Unwahrheit setzt eine fatale Abwärtsspirale in Gang, die am Ende den höchsten Tribut fordert…

Brillante Retrospektive einer freiheitsliebenden Femme Fatale

Mit Die Spionin ist Paulo Coelho eine brillante Retrospektive einer unkonventionellen Frau und Künstlerin gelungen, die ihrer Zeit weit voraus war und die für ihr selbstbestimmtes, freies Leben schließlich teuer bezahlte. Coelho hat exzellent recherchiert: Er erforschte nicht nur Mata Haris Leben en detail, sondern studierte auch insbesondere ihre Gerichtsakten. Die berührende Lebensbeichte der rätselhaften Femme Fatale, die gleichzeitig auch eine bestechend scharfe Selbstanalyse ist, hat Coelho so realitätsnah komponiert, dass man vergisst, dass es sich hierbei um Fiktion handelt. Mit großem Einfühlungsvermögen versetzt er sich in die Gedankenwelt dieses weiblichen Libertins und lässt uns teilhaben an ihren Träumen, ihrem grausamen Erwachen, ihrem Neubeginn, ihrem kometenhaften Aufstieg und schließlich auch an ihrem tragischen Niedergang.

Es ist eine Gratwanderung, die Coelho jedoch meisterhaft gelingt: Sein Vermischen von Facts & Fiction macht den Roman zu einem ganz besonderen Leseerlebnis, an dessen Ende wir nicht umhin kommen, Margaretha/Mata zu bewundern – für ihr unermüdliches Streben nach Freiheit in einer patriarchalischen Gesellschaft, für ihren Mut, ihre Macht als Frau zu ihren eigenen Gunsten zu nutzen, für ihre Kühnheit, über alle gesellschaftlichen Regeln hinweg ihr eigenes Leben nach ihren Vorstellungen zu gestalten, auch wenn es für Frauen damals wenig schicklich war.  Und die nonkonforme Rebellin geht ihren Weg unbeirrt bis zum Schluss, um ihrem Schicksal – scheinbar furchtlos – noch ein letztes Mal die Stirn zu bieten.

Mein Fazit: Ein brillanter Roman – sehr lesens- und empfehlenswert!