Rezension

Claras Tagebücher

Näher als du denkst - Elizabeth Musser

Näher als du denkst
von Elizabeth Musser

Claras Tagebücher

„Du bist ein Mensch, und du bist in Gottes Augen genauso viel wert wie jeder andere Mensch, ob er schwarz, weiß oder braun ist. Vergiss das nie, Clara!“

In Elizabeth Mussers Neuerscheinung spielt das uralte Tagebuch der ehemaligen Plantagensklavin Clara eine ganz zentrale Rolle. Es befindet sich im Besitz einer anmutigen jungen Frau namens CeeCee Eager, die im Zuge ihrer Ahnenforschung Kontakt zum Anwalt Andrew Stockton Fitten aufgenommen hat. Andrew, infolge von der Autorin stets „Stockton“ genannt, bekämpft den Menschenhandel in Atlanta. Seine Kanzlei engagiert sich für Mädchen, die zur Prostitution gezwungen wurden. In seinem Privatleben befasst sich der Anwalt als geschichtsbewusster Historiker leidenschaftlich mit der Ahnenforschung seiner wohlhabenden Familie, die im alten Haus auf der ehemaligen Fitten-Plantage östlich von Atlanta lebt. Die Geschichte von CeeCees Ahnin Clara ist mit jener seiner Familie eng verknüpft. Nach dem tragischen Unfalltod von Stockton wendet CeeCee sich an seine Witwe Nan und bittet um Kopien der alten Aufzeichnungen über Clara. Diese Dokumente sind die Grundlage für ein Schülerprojekt, in welchem CeeCee sich mit ihrer Familiengeschichte beschäftigt und zugleich auf die vielen Mädchen hinweist, die in Atlanta ihr Dasein als Sexsklavinnen fristen. Weder Stocktons tief trauernde Witwe Nan, noch die euphorische junge CeeCee merken, dass sie sich mit diesem Projekt in eine gefährliche Situation hineinmanövrieren.
Die Autorin erzählt in ihrem Roman eine ganz besonders emotionale und bewegende Geschichte. In der erzählerischen Gegenwart befasst sie sich mit den Auswüchsen des Menschenhandels in Atlanta und der Trauerarbeit nach dem Tod eines geliebten Angehörigen. Im Handlungsstrang, der in der Vergangenheit spielt, beschäftigt sie sich eingehend mit der Sklaverei, dem Antisemitismus und dem mörderischen Treiben des Ku-Klux-Klans.

Elizabeth Mussers Schreibstil ist überaus einnehmend und ich empfinde ihre gewählte Ausdrucksweise und die hervorragende Charakterzeichnung sämtlicher handelnder Figuren bereits als eines ihrer Markenzeichen. Durch handschriftliche Notizen des verstorbenen Anwalts in alten Briefen, die darauf hinweisen, dass er kurz vor seinem Tod auf etwas Grauenhaftes gestoßen ist, entsteht ein gewisser Spannungsfaktor. Die Tagebucheinträge der ehemaligen Sklavin Clara werden im Buch kursiv dargestellt und ermöglichen kontinuierliche Rückblenden in die Vergangenheit sowie eine behutsame Verknüpfung mit der Gegenwart.

Nan Fitten verliert mit ihrem liebevollen und fürsorglichen Ehemann die große Liebe ihres Lebens. Der abgrundtiefe Schmerz von Nans Verlust und der lange und beschwerliche Prozess der Trauerbewältigung nehmen großen Raum in diesem Roman ein und wurden sehr überzeugend dargestellt. Für Nan spielte der Glaube an Gott stets eine tragende Rolle. Nach dem Tod ihres Mannes stürzt sie jedoch in ein riesengroßes Loch und gerät in eine schwere Glaubenskrise. Nan wird durch ihre beste Freundin Sheri, ihre liebevolle Familie und einer etwas exzentrisch aussehenden Studentin namens LeeAnn unterstützt, die als Babysitterin, aber auch als Vertraute und kleine Schwester für sie da ist. Obgleich die Sklavin Clara zum Zeitpunkt der Handlung längst nicht mehr am Leben ist, stellt sie die zweite Hauptfigur dieses Buches dar. Bei den Schilderungen ihres von tragischen Ereignissen und sehr viel Schmerz überschatteten Lebens ist Elizabeth Musser mit großen Emotionen und außerordentlichem Feingefühl vorgegangen. Als Leser wird man in eine Südstaatenplantage längst vergangener Zeiten zurückversetzt und erlebt an der Seite dieser beeindruckenden und tapferen Frau hautnah das grauenhafte Wüten eines geld- und machtgierigen Plantagenbesitzers, der Sklaven als faule und nichtsnutzige Untermenschen betrachtet. James A. Towner entpuppt sich sehr rasch als einer der Antagonisten dieses Romans. Seine Bösartigkeit und seine sadistischen Handlungen zeugen davon, zu welch abgrundtiefer Grausamkeit ein menschliches Wesen fähig ist. Zu meinen favorisierten Nebenfiguren zählt unter anderem die liebevolle und freundliche Ehefrau des Sklavenbesitzers, die der Sklaverei sehr ablehnend gegenübersteht und stets versucht, Clara und ihre Familie zu beschützen. In der Person des Travis Buchanan erscheint ein zerknittert wirkender und nachlässig gekleideter Mann auf der Bildfläche, der es sich zur Aufgabe macht, die Ehefrau seines ehemaligen Anwaltskollegen und besten Freundes Stockton zu unterstützen. Durch Oliver Delaney erhält dieser Roman einen zweiten Antagonisten, der mit einem aalglatten Äußeren, einer berechnenden Art und abgrundtiefer Grausamkeit ebenfalls für Beklemmung und Nervenkitzel sorgt.

Elizabeth Musser hat aus sehr ernsten Themenbereichen eine beeindruckende Geschichte gewoben, die durch ihren brisanten Inhalt und durch hervorragend dargestellte Charaktere punktet. „Näher als du denkst“ ist ein tief bewegender und emotionsgeladener Roman, der mich als Leser sofort in den Bann gezogen und nicht mehr losgelassen hat. Claras Geschichte rührte mich zu Tränen, und ich bewunderte ihren Mut und ihre Tapferkeit vorbehaltslos. Der Glaube gibt den beiden Protagonistinnen dieses Buches die Kraft, ihr Schicksal zu ertragen und die Hoffnung niemals zu verlieren.

Ich kann diesen überwältigenden Roman aus der Feder Elizabeth Mussers als eines meiner absoluten Lese-Highlights 2018 uneingeschränkt weiterempfehlen!