Rezension

Da fällt einer aus seiner gewohnten Welt und der Autor kann ihn nicht daran hindern. Das hat etwas Bedrohliches, das den Leser immer mehr in einem atemlosen Sog mitnimmt.

Hagard - Lukas Bärfuss

Hagard
von Lukas Bärfuss

Bewertet mit 5 Sternen

Lukas Bärfuss, Hagard, Wallstein 2017, ISBN 978-3-8353-1840-3

 

Mehrfach wurde dem Rezensenten in den vergangenen zwei Jahren vom Wallstein Verlag mitgeteilt, dass sich das Erscheinen des neuen Romans „Hagard“ von Lukas Bärfuss leider verzögere. Nun liegt er vor, und wurde gleich für den Preis der Leipziger Buchmesse 2017 nominiert.

 

Ein Ich-Erzähler, der an einer Stelle in der Mitte des Buches auch so etwas wie Rechenschaft abgibt über die Schwierigkeiten, die er zeitweise mit seiner Geschichte hatte, erzählt von einem Mann namens Philip, der eines Tages, obwohl er dringende Termine als Immobilienmakler hat, einer plötzlichen Laune nachgibt, und im Feierabendverkehr einer Frau folgt.

 

Der Erzähler lässt die ganze Handlung in der ersten Märzhälfte des Jahres 2014 spielen, was der Leser durch seine ständigen Verweise auf weltpolitisches Geschehen wie etwa die Suche nach dem verschwundenen Flugzeug MH 370, leicht erkennen kann. Er spart auch nicht mit für Lukas Bärfuss typischen kulturkritischen Verweisen, etwa:

„Man fürchtete sich vor der Zukunft, der Leichtsinn, der vor gar nicht langer Zeit die karierte Decke auf der blühenden Frühlingswiese ausgebreitet hatte, war verflogen. Man war, so las man in Zeitungskommentaren, in eine Schwellenzeit getreten, deren Ende, wann immer es uns treffen mochte, nur eines bedeuten konnte: den Untergang der Welt, wie wir sie kannten.“

 

Eine Stimmung, die sich bis heute angesichts von Brexit, Trump und Erdogan noch zugespitzt haben dürfte.

 

Der Ich-Erzähler ist mit seinem Protagonisten, von dem immer unklarer ist, was er mit der Verfolgung einer Frau, deren Gesicht er lange gar nicht erkennen kann, beabsichtigt, wie in einem Kampf. Einmal schreibt er: „Doch dort ließ mich Philip nicht in Ruhe. Er hatte kein Einsehen und saß weiterhin in seinem Vorortzug. Seiner Starrköpfigkeit überdrüssig, schrie ich ihm zu, er solle sich zusammenreißen und endlich zu Belinda gehen du  danach, meinetwegen, sein Leben ändern, Vera entlassen, das Geschäft du  den BMW verkaufen und seine Talente einer Sache widmen, die größer war, als dieses billige Abenteuer.“

 

Er kann nicht billigen was Philip da tut, kann aber auch nicht von ihm lassen. Da fällt einer aus seiner gewohnten Welt und der Autor kann ihn nicht daran hindern. Das hat etwas Bedrohliches, das den Leser immer mehr in einem atemlosen Sog mitnimmt.

 

Und immer wieder Bemerkungen über den Zustand der Welt und der Gesellschaft in unserer Zeit, die nachdenklich machen. Die beiden letzten Sätze des Buches kommen mir vor, wie eine dialektisch-philosophische Botschaft von Lukas Bärfuss selbst: „Ich sterbe, aber ich verschwinde nicht. Dies ist das Ende, und hier will ich beginnen.“

Vgl. auch seine Essays „Stil und Moral“ (2015)