Rezension

Das Herz des Lime-Street-Bahnhofs

Das Fundbüro der Wünsche
von Caroline Wallace

Bewertet mit 4 Sternen

Wie wäre ich wohl geworden, wenn ich mein ganzes junges Leben in einem Bahnhof hätte zubringen müssen? Gekettet an die riesige Verantwortung keinen Fuß vor den Bahnhof zu setzen, um nicht all die Menschen darin ins Unglück zu stürzen. Misshandelt und belogen von der einzigen Mutter, die ich kenne. Aufgewachsen in dem täglichen Bewusstsein von der leiblichen Mutter ausgesetzt worden zu sein. Arbeitend im Fundbüro mit einem besonderen Gespür für verlorene Dinge. Nun, aus mir wäre definitiv kein Sonnenschein wie Martha geworden, darauf würde ich meinen H... verwetten. Martha ist die liebenswerteste, durchgeknallteste, weltfremdeste und unvoreingenommeneste literarische Figur, die mir seit langem untergekommen ist. Ich finde sie herrlich und konnte seit der ersten Zeile nicht mehr von ihrer Seite weichen, mit dem deprimierenden Ergebnis, dass der Roman von Caroline Wallace innerhalb kürzester Zeit ausgelesen war und nun Martha nur noch in meinem Kopf herumgeistern kann. Zusammen mit einem Potpourri aus Beatlessongs, den Tanzschritten des Mashed Potato und einem Tage währenden Appetit auf Kuchen und Torten.

Martha Lost kennt sich gut mit Fundsachen aus, weil sie selbst auch eine ist. Nur wenige Monate alt, legte man sie im Jahre 1960 vor dem Fundbüro im Lime-Street-Bahnhof von Liverpool ab und nachdem die festgesetzten 90 Tage verstrichen waren, reklamierte Mutter Martha für sich. Knapp 16 Jahre ist es nun her und die Zeit unter Mutters Schreckensherrschaft nimmt urplötzlich ein Ende. Das bringt allerdings neue Probleme mit sich, denn um ihr Zuhause und den Job im Fundbüro nicht zu verlieren, muss Martha unbedingt ihre Sozialversicherungsnummer und ihre Geburtsurkunde finden. Martha muss außerdem lernen, sich ohne Mutter zurecht zu finden und vor allem muss sie herausfinden, wer sie ist und wo sie herkommt. Unterstützt wird sie dabei von der lebenslustigen Cafébetreiberin Elisabeth, dem jungen römischen Legionär George und dem angelnden Schatten von Gleis 7. Aus den Takt gebracht wird Martha noch zusätzlich von dem Australier Max, der einen Koffer voller Beatleserinnerungen gewinnbringend vermarkten will und eine Schwäche für schöne Mädchen hat. Viel mehr mag man gar nicht Preis geben aus diesem wunderbaren Buch. Soll sich jeder selbst ein Bild von Martha machen und die Geschichte mit seinen eigenen Augen erlesen.

Es ist vor allem auch die Art, wie Caroline Wallace Martha ihre Geschichte selbst erzählen lässt, erweitert um Zeitungsartikel und Briefe anderer Figuren. Marthas Perspektive ist durch die Umstände ihrer Herkunft und der schweren Kindheit unter einer kranken, religiös gestörten Frau wie aus der Zeit gefallen und hat sich einen eigenen Zauber bewahrt. Sie sieht ihre kleine beschränkte Welt völlig unvoreingenommen, urteilt und bewertet nicht nach den Maßstäben der Gesellschaft, sondern nur nach ihrem eigenen Gefühl. Sie findet in den ganz kleinen Dingen des Alltags ihre Freude und wird darin von den meisten Menschen des Bahnhofs unterstützt. Es ist eine kleine, liebevolle Welt. Ein Mikrokosmos in dem man aufeinander aufpasst und, so gut es geht, für einander einsteht. Der eigentliche Zauber aber gelangt in den Roman, weil Martha die besondere Gabe hat, die Geschichte hinter den verloren gegangenen Dingen des Bahnhofs zu sehen, wenn sie diese berührt. Sie ist eine Finderin. Das Fundbüro des Bahnhofs hat die beste Rückgabequote aller Filialen. Vielleicht funktioniert die Geschichte auch nur, weil sie im Jahre 1976 spielt und uns heute, 50 Jahre später, nicht so schnell auffällt, dass die Figuren im Buch auch alle aus ihrer Zeit gefallen sind. Elisabeth, die den Mashed Potato tanzt und dazu selbstgeschneiderte Tanzkleider der 60er trägt. George, der als römischer Legionär Schulklassen führt und stolz diese Uniform seines ersten Jobs trägt. William, der seinen Schmutz wie eine schützende Mauer um sich hält und der Trauer über das abrupte Ende seiner behüteten Kindheit im Zaum zu halten versucht. Verlorene Figuren, die durch Martha zueinander finden und ihr den Rücken stärken. Ich bin beeindruckt von diesem Debüt und empfehle das Fundbüro der Wünsche allen, die sich in unserer hochtechnisierten, digital-vernetzten Welt nach ein bisschen Magie mit dem Duft von Zitronenstreuselkuchen sehnen.