Rezension

Das Leben danach

Im ersten Licht des Morgens - Virginia Baily

Im ersten Licht des Morgens
von Virginia Baily

Bewertet mit 3.5 Sternen

Ein Blick, zwei Entscheidungen und plötzlich wird aus Daniele Levy der Sohn von Chiaras Schwester. Während der vielleicht Siebenjährige wie erstarrt neben Chiara steht, entschwindet seine Familie im Laster der Nazis ins Unvorstellbare. Die ersten Strahlen des neuen Morgens erklimmen Rom, noch bevor er die Stadt richtig erreicht, ist das Judenviertel geräumt und kaum jemand hat etwas davon mitbekommen.

Als Lesender gibt es diesen einen Moment, in der die liebgewordene Figur oder das unschuldige Kind gerettet wird – im letzten Moment natürlich. Die Spannung lässt nach und Erleichterung flutet einen. Doch immer häufiger frage ich mich, wie es nun für den oder die Gerettete weitergehen wird oder ertappe mich dabei, nicht zu verstehen, dass nun doch lebenslanges Glück über diese Rettung jeden von ihnen durchs Leben tragen müsste. Das Gegenteil scheint oft der Fall. Den als Überlebender betrauerst du all diejenigen, die nicht überlebt haben. Dein Herz ist schwer und dein Verstand kann nicht fassen, warum du verschont wurdest – ausgerechnet du.

Im ersten Licht des Morgens von Virginia Baily erlebe ich das bekannte Gefühl der Erleichterung, als der Junge vom Lastwagen herunter an Chiara gegeben wird. Ich weiß genau, welches Schicksal die Nazis für ihn gedacht hatten und freue mich, dass durch eine List Daniele nun eine Chance hat. Doch Daniele sieht das nicht so wie ich. Man hat ihn einfach von seiner Familie getrennt. Plötzlich spürt er den Griff einer wildfremden Frau, wird in ein Zuhause gebracht, das nicht seines ist und in dem ihn nicht alle Willkommen heißen. Er überlebt den Krieg und die Verfolgung, aber er verliert sich selbst dafür. Er liebt Chiara wie eine Mutter und sie tut alles für diesen unverhofften Sohn. Doch gegen seine Dämonen ist sie ähnlich machtlos wie er. So ist im Rom der 60er und 70er Jahre ein ohnmächtiger Stillstand eingetreten. Daniele ist aus Chiaras Leben verschwunden und sie versucht zaghaft ihr Leben in die Hand zu nehmen bis eines Morgens das Telefon klingelt und die Stimme eines jungen Mädchens nach ihrem Vater Daniele Levy fragt.

Drei Generationen verwebt die Autorin in ihrem Roman, zwei Gegenwarten wechseln sich ab. Chiaras Stunden und Tage mit Daniele nach dem ersten Licht des Morgens in der harten Wirklichkeit des Zweiten Weltkrieges, Chiara allein im sonnendurchfluteten Rom 20 Jahre später, und schließlich in der gleichen Zeit die junge Engländerin Maria, die über einen Brief stolpert, der ihre gesamte Identität aufzulösen scheint. Es ist ein berührender Roman. Eine leidvolle Geschichte. Ein Hoffnungsschimmer. Ein Lobgesang auf Italien, die ewige Stadt und auf die Liebe in all ihrem Schmerz. Der Fokus liegt auf den Frauengestalten dieser Handlung. Daniele lernen wir nur aus den Perspektiven der anderen kennen, er kommt selbst nicht zu Wort. Sein Inneres bleibt uns verschlossen und so können auch wir Leser nur spekulieren und interpretieren, ähnlich wie es Chiara und Maria tun. Die Rettung Danieles im ersten Licht des Morgens hätte als Happy End eine andere Geschichte beschließen können. Virginia Baily nimmt uns mit in das Danach und seine schwierige Wirklichkeit. Sie ist dabei mit ihren Figuren sehr ehrlich und behutsam, zeigt uns die Figuren aus den Augen verschiedener anderer Nebenfiguren und hilft uns, zu verstehen, wie es ihnen wirklich geht, meist bevor sie es selbst wissen. Ein großer Roman.