Rezension

Das Leben und die Leiden des Jude St. Francis

Ein wenig Leben - Hanya Yanagihara

Ein wenig Leben
von Hanya Yanagihara

Bewertet mit 5 Sternen

Laut Inhaltsbeschreibung geht es um vier Männer, die sich am College kennenlernen und eine lebenslange Freundschaft pflegen. Im Mittelpunkt steht Jude St. Francis, der trotz der Liebe seiner Freunde, nicht aus dem schwarzen Schatten seiner Kindheit und Jugend treten kann.

Obwohl die Freundschaft dieser vier Männer angeblich im Zentrum der Erzählung steht, geht es meiner Meinung einzig und allein um Jude, einen beschädigten Menschen, der es nicht einmal wagt, ein wenig Leben und ein bisschen Liebe zu erwarten.

Jude ist charismatisch, er ist gut aussehend, er hat etwas Überlegenes und ist geheimnisvoll. Mit Jude St. Francis hat Autorin Hanya Yanagihara einen Protagonisten erschaffen, den man einfach lieben muss. Ich konnte nicht anders, als an Judes Leben teilzuhaben, jede Minute mit ihm als Geschenk zu empfinden und ihm mit jeder Faser meines Körpers alles Gute zu wünschen. Ich hatte noch nie eine derart intensive Hörerfahrung und es kommt selten vor, dass man sich so sehr an einen Charakter gebunden fühlt. Denn Jude ist nicht nur mit diesen überaus positiven Eigenschaften gesegnet, sondern ihm wurde in seinem Leben übelst mitgespielt. Vom Trauma seiner Kindheit und Jugend hat er sich weder physisch noch psychisch erholen können und nach und nach erfährt man, wie eine menschliche Seele so zugerichtet werden kann.

Jude ist ein beschädigter Mensch. Er ist zerbrochen und kann nicht einmal durch die Liebe seiner Freunde notdürftig zusammengesetzt werden. Dabei hat er trotz all der Grausamkeiten seines Lebens so großes Glück gehabt. Er hat überlebt und er wird wahrhaftig geliebt, weil man einfach nicht anders kann, als vom ersten Moment an unendliche Zuneigung für Jude zu empfinden.

Die Handlung erstreckt sich über ein ganzes Menschenleben. Über mehrere Jahrzehnte hinweg lernt man Jude und seine Freunde kennen, erlebt mit ihm schöne Augenblicke, erfährt in Rückblicken, was Jude einst so beschädigt hat, und macht gleichzeitig Entsetzliches in der Gegenwart durch, was dieses Hörbuch zu einer sehr intensiven Lese- bzw. Hörerfahrung macht.

Judes Freunde nehmen mehr oder weniger Raum in der Erzählung ein und rücken doch stark in den Hintergrund. Daher behaupte ich, dass es nicht um die Freundschaft, sondern um das Trauma geht, das einen gebrochenen Menschen hervorgebracht hat.

Das Leben und die Leiden von Jude St. Francis haben mich aufgewühlt, mich nachdenklich gestimmt, mich mit Liebe und Zuneigung gefüllt und mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Meiner Meinung nach hat Hanya Yanagihara damit ganz große Literatur geschaffen, die vielleicht märchenhafte Züge enthält, einen epischen Grundton hat und manches Mal sogar kitschig ist, mich als Leser aber mitten in der Seele trifft und zum intensiven Nachdenken anregt.

Wer diesem Roman offen gegenübersteht und sich auf den ruhigen Erzählstil einlassen kann, wird in Judes Schatten treten und so schnell nicht mehr herausfinden. Es ist ein Buch voller Leid, Liebe und Wahrhaftigkeit. Es ist eine Geschichte, die einen nicht unberührt und vor Schmerz innerlich aufschreien lässt.