Rezension

Demenz und Verwirrtheit aus Sicht einer Betroffenen

Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm - Selja Ahava

Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm
von Selja Ahava

Bewertet mit 5 Sternen

Anna ist dement und lebt im Pflegeheim. Sie ist oft verwirrt und weiß nicht wo und wann sie lebt. Ihr jüngerer Bruder und dessen Frau kümmern sich gut um sie, das Pflegepersonal ist im Rahmen seiner Möglichkeiten wunderbar. Leider weiß sie das nicht so zu schätzen, da das Kurzzeitgedächtnis nicht funktioniert. Dafür hat sie besuch von Gott, in denen es ihr fast gelingt sich wieder zu erden.

Die jüngere Anna hatte eine glückliche Beziehung mit Antti, einem Dokumentarfilmer. Dieser Beziehung fehlten nur gemeinsame Kinder. Antti dreht eine langjährige Dokumentation über einen Jungen (Iwan), der als Kleinkind in ein Rudel wilder Hunde (in Russland) aufgenommen wird und dort lange lebt.  Irgendwann wird Iwan wieder in die Zivilisation aufgenommen  und Antti filmt und interviewt in jährlich um die Entwicklung darzustellen.

Anna und Antti leben in Finnland und haben dort eine wunderschöne, kleine Insel auf der es sich im Sommer karg aber glücklich leben lässt.

Doch durch den plötzlichen Tod von Antti verliert Anna mit Ende dreißig total den Boden unter den Füssen und flüchtet sich in endlose Spaziergänge, Winterschlaf und Phantasien. So erschafft sie sechs kleine Phantasiekinder (deren Vater Antti ist). Doch diese enge, rudelähnliche Gemeinschaft hilft ihr irgendwie sich wieder etwas aufzurappeln.

Irgendwie zieht sie nach London, beginnt eine neue Beziehung mit Thomas, dem sie ihre Vergangenheit nicht gestehen kann. Dort sieht sich auch den Wal, der durch London schwamm (tatsächliches Ereignis in 2006). Ein mächtiges, symbolisches Ereignis.

Aber durch einen Zeitungsausschnitt, der über Iwan berichtet, dass dieser sich entschieden hat wieder lieber unter den Hunden zu leben, bringt sie völlig aus der Spur.

Das Buch hat viele Zeitsprünge, phantastische Elemente, symbolträchtige Einschübe und ist deshalb nur für offene Leser zu empfehlen.  Wer aber die Verwirrung im ersten Teil einfach hinnimmt wird mit dem Lesegenuss eines sehr außergewöhnlichen Buches belohnt. Der Stil geht von karg (adjektivlose Listen) bis fulminant und eindringlich (z.B. die Beschreibung des Walbesuchs). Es ist ein manchmal verwirrendes Buch über eine sehr verwirrte Frau, deren Erinnerungslücken schon im relativ jungen Alter beginnen. Wir wissen natürlich nicht, wie es wirklich von einem solchen Menschen erlebt wird, aber so könnte es sein. Die Ängste und die Panik, die demente Menschen oft zeigen wird hier gut erklärt und begründet. Sehr berührend fand ich auch die Versuche von Anna ein selbstständiges Leben möglichst lange zu führen. Annas Krankheitsbild mag nicht ganz den „klassischen“  Demenzfällen entsprechen, gibt aber sicher genügend Anhaltspunkte zur Reflexion.

Eine Leseempfehlung für alle, die sich auch auf ein nicht gradliniges, manchmal verwirrendes Stück Literatur einlassen können.