Rezension

Der beste Sommer von allen

Tschick - Wolfgang Herrndorf

Tschick
von Wolfgang Herrndorf

Bewertet mit 5 Sternen

»Was soll ich denn machen? Soll ich zu Tatjana gehen und sagen, herzlichen Glückwunsch, ich hab hier ein kleines Geschenk für dich zum Geburtstag – und es stört mich auch überhaupt nicht, dass ich nicht eingeladen bin und jeder andere Spacken schon, ja wirklich, kein Problem. Und ich komm hier auch nur zufällig vorbei und geh auch gleich wieder – viel Spaß mit dieser Zeichnung, an der ich mir drei Monate lang den Arsch abgearbeitet hab?« Tschick kratzte sich am Hals. Er legte die Zeichnung auf den Schreibtisch, betrachtete sie kopfschüttelnd und sah mich dann wieder an und sagte: »Genau so würd ich’s machen.«

Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow, genannt Tschick, sind in ihrer Klasse klare Außenseiter. Maik, weil er so „langweilig“ ist und Tschick, weil er in einer „Asi-Gegend“ wohnt, die Förderschule besucht hat und mit abgerissener Kleidung und Alkoholfahne in die Schule kommt. Auch Maik kann ihn zunächst nicht leiden, dank Tschicks Hartnäckigkeit ändert sich das aber bald. Tschick hat nämlich genau das, was Maik fehlt: Selbstvertrauen.

Als Maik am ersten Sommerferientag allein am elterlichen Pool liegt (weil seine Mutter mal wieder zwecks Alkoholentzug in der Klinik und sein Vater mit Assistentin auf Geschäftsreise ist) und zudem in Selbstmitleid badet (weil er drei Monate an einer Zeichnung für das Mädchen seiner Träume gesessen hat und nun nicht zur Party eingeladen wurde) reißt er ihn aus seiner Apathie und bringt in auf Kurs: Zuerst zu Tatjana, um ihr ganz lässig das Geschenk zu überreichen und anschließend Richtung Walachei. Zu Tschicks Opa. In einem gestohlenen Lada. Der Roadtrip der beiden 14jährigen wird ihnen in Erinnerung bleiben als der chaotischte und beste Sommer von allen…

 

Dieses Buch hat wieder richtig Spaß gemacht. Die beiden Protagonisten sind zwar jünger als meine Kinder, was gleichzeitig bedeutet, dass ich schon lange keine Jugendliche mehr bin, aber das störte in keinem Moment.

Maik und Tschick sind total sympathisch. Gerne verzeiht man ihnen, dass sie stehlend durchs Land ziehen, Auto fahren und sich die ein oder andere Verfolgungsjagd mit Polizisten liefern, denn sie wirken nicht bösartig, sondern strahlen lediglich ein Übermaß an jugendlichem Leichtsinn aus. Bemüht, dem eigenen Gewissen gerecht zu werden, klauen sie „nur“ ein „Schrottauto“, das der Besitzer sicher nicht vermisst und wollen es „nachher wieder zurückbringen“. Zudem konnte ich den Wunsch der beiden, einfach mal „Urlaub zu machen wie alle anderen“ so gut nachvollziehen! Schließlich ist ihre Ausgangssituation wirklich nicht rosig.

Sehr gut wird dabei klargemacht, dass es nicht nur auf den finanziellen Hintergrund ankommt, denn Maiks Eltern haben zwar eine Villa mit Pool, das hilft aber Maik nicht, der viel sich selbst überlassen ist und unter der Alkoholsucht seiner Mutter leidet. Auf der anderen Seite ist Tschick zu bewundern, der es geschafft hat, sich von der Förderschule bis zum Gymnasium hochzuarbeiten.

 

Auf ihrer Reise lernen die beiden noch Isa kennen, ein etwa gleichaltriges Mädchen, das auf einer Müllkippe zu leben scheint und den Anschein erweckt, bereits über einen sexuellen Erfahrungsschatz zu verfügen. Aus zwei reisenden Außenseitern werden nun drei und auch Isa verfügt über Fähigkeiten und Ansichten, die überraschen.

 

In einem Buch, dessen Helden Jugendliche sind, kommen die Erwachsenen nicht selten schlecht weg. Das ist hier aber nicht der Fall. Im Gegenteil finden die Freunde zu ihrer Überraschung immer wieder Menschen, die bereit sind, ihnen zu helfen. Auch das ist ein Punkt, der dazu beiträgt, dass das Buch ein gelungenes Leseerlebnis für mehrere Generationen sein kann.

Die Sprache ist typischer Jugendslang, wirkt also sehr authentisch. Gleichzeitig ist sie, vor allem wenn Maik seine Gefühle und Gedanken beschreibt, enorm berührend. Manche Textstellen gingen mir ans Herz, andere fand ich herrlich lustig.

 

Fazit: Freundschaft, Liebe, Abenteuer, Selbstvertrauen und ein Schuss Gesellschaftskritik sind die großen Themen des Buchs. Nach der Lektüre weiß jeder, was für großartige und liebenswerte Menschen solche Außenseiter sein können.

 

»Wie wär’s, wenn wir uns einfach in fünfzig Jahren wiedertreffen? Genau hier, in fünfzig Jahren. Am 17. Juli, um fünf Uhr nachmittags, 2060. Auch wenn wir vorher dreißig Jahre nichts mehr voneinander gehört haben. Dass wir alle wieder hierherkommen, egal, wo wir dann gerade sind, ob wir Siemens-Manager sind oder in Australien. Wir schwören uns das, und dann reden wir nie wieder drüber.«