Rezension

Der Brief stirbt, aber er ist nicht tot

Briefe! - Simon Garfield

Briefe!
von Simon Garfield

Bewertet mit 5 Sternen

Die ältesten bisher gefunden Privatbriefe sind die Vindolanda-Täfelchen. Briefe, die die in Britannien stationierten Römer in ihre Heimat geschickt haben. Alles, was damals an Schriftverkehr der Aufbewahrung für wert befunden wurde, kann heute den Zufallsfunden an Privatdokumenten nicht das Wasser reichen. Erst hier finden sich bedeutsame und überraschende Einblicke. Und das alte Rom war erst der Anfang. Bis sich der Postverkehr in unserer Kultur etablieren sollte, verging viel Zeit und der Brief wechselte immer wieder seine Funktion. Etwas gilt allerdings für die gesamte Geschichte des Briefes (und des Buches): bei jeder Veränderung wird sein Tod, sein Sterben, prophezeit. Doch ob er stirbt oder nicht: er lebt und steht vielleicht nur vor seinem nächsten Wandel!

Detailliert, unterhaltsam und fundiert nimmt Simon Garfield den Leser mit auf eine Entdeckungsreise. Der Brief, kaum ein Dokument wird bereits in seiner aktiven Phase so unterschätzt und bagatellisiert wie er. Die profane Nachricht eines Menschen an einen anderen. Schematisiert, unwichtigen Inhalts und doch: eine Fundgrube für spätere Generationen. Schon die Kindergeneration kann sich der Faszination des „alten“ Briefes nicht mehr entziehen. Vor zehn Jahren mit der E-Mail gleichgesetzt, stellen wir doch heute schon fest: beides ist nicht miteinander zu vergleichen.

Simon Garfield verteufelt nicht. Er trauert nicht. Er schwelgt nicht in der Vergangenheit. Er führt den interessierten Leser durch die Jahrhunderte. Witzige und tragische, unterhaltsame und atemberaubende Geschichten rund um den Brief, seine Geschichte und Forschung, werden hier auf über 500 Seiten festgehalten, die nie langatmig, uninteressant oder verstaubt wirken. Briefbeispiele großer Autoren und Philosophen stehen neben Dokumenten unbekannter kleiner Leute, die uns heute fast noch mehr zu sagen haben, als die der Prominenz. Reich illustriert  und mit Details zur heutigen Forschung, Archivierung und Verwertung der Korrespondenzen bietet dieses Buch mehr als eine einfache Geschichte des Briefwesens. Immer wieder gibt es Anekdoten zur Recherchearbeit des Autors oder historischer Natur. Dieses perfekte, unterhaltsame Sachbuch wird durch etwas ganz besonderes abgerundet: Eine Korrespondenz eines normalen britischen Paares aus dem zweiten Weltkrieg. Neben der fesselnden Geschichte, die sie erzählt, verdeutlicht sie die große Faszination, die ein Brief ausübt – über Generationen und Prominenzen hinweg.

Zwischen Verwandlung und Tod – der Brief ist genau wie das Buch ein Schriftstück, das fasziniert und dem bei jeder Veränderung der baldige Untergang vorausgesagt wird. Doch stirbt er wirklich? Bis heute hat er nichts von seinem Zauber verloren. Das führt Simon Garfields Buch dem Leser vor Augen und sofort möchte man zu Papier und Stift greifen, um sich die Zeit zu nehmen, seinem besten Freund einen richtigen Brief zu schreiben; sodass er sich freut, wenn er den Briefkasten öffnet und nicht nur Werbung und Rechnungen findet. Eines ist dabei ganz sicher: in einem Brief wird nie drinstehen, ob man gerade einen „Mjami-Kuchen“ isst. Briefe erzählen eigene Geschichten.