Rezension

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Der Fall Grace Marks

alias Grace - Margaret Atwood

alias Grace
von Margaret Atwood

Bewertet mit 4 Sternen

Es war jetzt schon das dritte Mal, dass ich zum Jahreswechsel Margaret Atwood las. Und ich kann mir kaum einen besseren Start ins Lesejahr vorstellen. Wie auch schon in ihren anderen Romanen, gefiel mir auch bei alias Grace ihr Schreibstil einfach unglaublich gut.

In der ersten Hälfte des Romans fliegt die Geschichte nur so dahin, obwohl nicht viel passiert. Anhand von Zeitungsartikeln, Berichten und anderen nicht immer seriösen Quellen erfahren wir zu Beginn grobe Details über den Doppelmord an Mr Kinnear und seiner Haushälterin Nancy. Grace Marks wurde für diese Tat zu Lebenslanger Haft verurteilt, ihr „Komplize“ hingerichtet. Doch sie selbst behauptet, ihr fehle die Erinnerung an den Mord. Wurde die junge Frau zu unrecht verurteilt? Erinnert sie sich wirklich nicht oder ist das die Schutzbehauptung einer kaltblütigen Mörderin?

Der Arzt Simon Jorden, will Grace nun „heilen“ und ihre Erinnerungen wiederherstellen. Dafür lässt er sich von ihr ihre Lebensgeschichte erzählen. Und die ist wirklich interessant. Ihre Kindheit in Armut und die Einwanderung nach Kanada, der Tod ihrer Mutter oder ihre erste Anstellung an Dienstmädchen. Grace erzählt akkurat und detailverliebt und wirkt absolut ehrlich. Es macht einfach Spaß ihr zuzuhören. Besonders der Dienstmädchenalltag ist toll beschrieben und dass man dem Tag der Morde Stück für Stück näher kommt, sorgt für Spannung.

Besonders gefielen mir wieder einige sprachliche Blüten Awoods, wie zum Beispiel die erste Begegnung von Simon und Grace, die an ein Madonnenbild erinnert. Auch einige herrlich bissig ironische Stellen gibt es, die mich mehr als einmal zum Schmunzeln gebracht haben. Die Briefe von Simons Mutter – vor allem gegen Ende - sind einfach köstlich! Und allein der Blick in die Klassengesellschaft der 1850er Jahre, das Frauenbild oder die Gedanken der Zeitgenossen über beispielsweise Prostitution war die Lektüre wert!

Im letzten Drittel stockt die Geschichte leider etwas. Es gibt Überraschungen, die aber nicht konsequent genug durchgezogen werden. Ich war vor allem etwas enttäuscht, dass der Fall „Grace Marks“ nicht auf der Fantasie Atwoods beruht, sondern sie sich sehr stark an einen realen Kriminalfall gehalten hat. Zwar finde ich es gar nicht schlimm, dass man sich letztlich doch selbst Gedanken über die Tat machen muss, doch das hätte passieren sollen, weil die Autorin es so plante und darauf hinarbeitete und nicht, weil es „in Echt“ eben auch nicht genau geklärt wurde. Ich habe mir sehr gerne Gedanken über die Schuld oder Unschuld Grace' gemacht, aber ich fand es schade, dass dahinter kein tieferer Sinn zu stecken schien.

Insgesamt fand ich alias Grace eine toll geschriebene Geschichte mit einer interessanten Hauptcharakterin und einem verworrenen Kriminalfall. Bis auf ein paar Schwächen gegen Ende gefiel es mir sehr gut. Für mich eine lesenswerte Geschichte, die vielleicht besser ankommt, wenn man weiß worauf man sich vor allem im Bezug auf das offene Ende einlässt.