Rezension

Der Junge mit den Kranichen

Der gefährlichste Ort der Welt
von Lindsey Lee Johnson

Es lag kein Sinn in dem, was Tristan Bloch getan hatte. – Calista, Seite 303

In einem idyllischen Städtchen in der Bucht von San Francisco, dort wo die Menschen in Harmonie, Sicherheit und Wohlstand leben, geschieht eines Tages etwas Schreckliches: Der 13-jährige Tristan Bloch nimmt sich das Leben. Er hinterlässt keinen Abschiedsbrief und eine völlig verzweifelte Mutter, die nicht verstehen kann, wie es dazu gekommen ist. Doch Tristans Mitschüler wissen, was geschehen ist. Sie wissen, wie der Junge von ihnen in sozialen Netzwerken gemobbt und tagtäglich fertig gemacht wurde. Diese Mitschüler lernen wir in diesem Buch einen nach dem anderen kennen und tauchen in ihr Leben nach Tristans Tod ein. Wir lernen verstehen, wer sie sind und wie sich jene folgenschwere Gruppendynamik entwickeln konnte und immer wieder wird entwickeln können.

Dieses Buch bietet dem Leser zunächst etwas anderes, als man auf den ersten Blick erwarten mag. Ich hatte geglaubt, mehr über Tristan selbst, seine Familienverhältnisse und die Hintergründe seines Suizids erfahren zu können. Doch darüber werden wir weitgehend im Dunkeln gelassen und die Autorin zeigt, warum das manchmal nicht wichtig ist. Es ist nicht wichtig, dass Tristan in komischen gelben Jogginghosen in die Schule kam, ständig Nachhilfeunterricht brauchte und von seiner aufdringlichen Helikoptermutter in der Schule blamiert wurde. Es hätte auch jeden anderen treffen können.

Deshalb präsentiert sie uns ein sehr authentisches und psychologisch fein ausgearbeitetes Porträt eines jeden „Täters“ oder einer jeden „Täterin“. Wir erfahren mehr über diese Kids, die bei Facebook auf Tristans Gefühlen herumtrampeln und können irgendwann verstehen, dass sie alle ihre eigenen Probleme haben, die sie zu jenen verbitterten Gestalten gemacht haben, die sie schon in jungen Jahren sind. Es sind die Geschichten trauriger Teenager, in deren objektiv so heilen Leben an irgendeinem Punkt einmal etwas schief gelaufen ist und die sich seitdem hinter ihrem oberflächlichen Saus und Braus verstecken.

Zurück bleibe ich als Leserin in Erinnerungen an meine eigene, gar nicht mal so fernliegende, Schulzeit mit ebenso grausamen Kindern und der Erkenntnis, dass sie doch irgendwo alle gleich sind – ob hier in Deutschland oder auf einer amerikanischen High School. Was bleibt, ist die Frage danach, wo er denn nun ist, der gefährlichste Ort der Welt: In Mill Valley, Tristans Heimatstadt? In der High School? In der Pubertät? Auf Facebook? Vermutlich ist er überall dort, wo alle diese Faktoren zusammentreffen und es bleibt einem nur wenig, um Kinder vor ihm zu beschützen.

An dieser Stelle möchte ich noch eine dringende Empfehlung aussprechen, dieses Buch als Schullektüre in Erwägung zu ziehen. Dafür bietet es unglaublich viel an.