Rezension

Die 60er Jahre, die Beatles - und eine Liebesgeschichte

Winterrosenzeit - Ricarda Martin

Winterrosenzeit
von Ricarda Martin

Bewertet mit 5 Sternen

Wir schreiben das Jahr 1965! Die Beatles feiern in England ihre ersten Erfolge und auch in Deutschland beginnen die jungen Leute, sich für die Pilzköpfe, ihre neue Musikrichtung und für das zu interessieren, was damit einhergeht und den Beginn einer neuen Zeit einläutet.
Doch die ältere, die Kriegsgeneration, wehrt sich vehement gegen das, was sie als "Hottentottenmusik" bezeichnet, der man im besten Falle skeptisch gegenübersteht. Je tiefer die Provinz, umso ablehnender zeigt man sich.
Das bekommt auch der junge Student der Rechtswissenschaften Hans-Peter aus einem Dorf im Schwäbischen zu spüren, dessen großer Traum es ist, die Beatles live im englischen Blackpool zu erleben. Dafür schuftet er auf dem Bau, - und macht sich gegen den Willen seiner Mutter und des Stiefvaters per Anhalter auf den Weg nach England!
Dass er dort alsbald in der bezaubernden Ginny die große Liebe finden würde, hätte er sich nie träumen lassen. Doch scheint diese Liebe unter keinem guten Stern zu stehen. Hans-Peter ist als Deutscher für viele Engländer in jener Zeit, denen der von seinen Landsleuten angezettelte Zweite Weltkrieg noch in allen Knochen steckt, eine persona non grata!
Und als sich dann auch noch herausstellt, dass sein wirklicher Vater keineswegs, wie seine Mutter ihm glauben gemacht hatte, als Soldat der Wehrmacht in Ostpreußen gefallen ist, sondern im Gegenteil ein untergetauchter, ruchloser ehemaliger SS-Mann ist, der auf der Fahndungsliste der Kriegsverbrecher steht und, wie Hans-Peter bei seinen Nachforschungen entdeckt, noch am Leben ist, scheint eine Zukunft mit Ginny ausgeschlossen!

Um es vorweg zu sagen - die Autorin Ricarda Martin hat mit "Winterrosenzeit" einen hervorragenden Roman voller Dramatik und voller Gefühl geschrieben, der die 60er Jahre so authentisch wieder auferstehen lässt, dass die Generation, die diese Zeit miterlebt hat, sich unwillkürlich zurückversetzt fühlt. Erinnerungen kommen aus der Versenkung hervor, Bilder erscheinen vor dem inneren Auge, die man fast mit Händen greifen kann!
Für die jüngeren Leser, die die muffigen, prüden 60er nur aus Erzählungen ihrer Eltern oder gar Großeltern kennen, ist es sicher kaum vorstellbar, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass etwa die Jeans ein verpöntes Kleidungsstück waren, oder dass die Moral eines Menschen an seinem Haarschnitt festgemacht wurde.
Es war die Zeit des braven deutschen Schlagers, der guten, einfallslosen Hausmannskost, junge Männer liefen in Anzügen oder biederen Stoffhosen und sauber geknüpften Hemden ohne jeden Chic umher. Alles Ausländische wurde mit Misstrauen beäugt. Spießbürgertum und nicht hinterfragte Gehorsamkeit den Eltern gegenüber - das war es, was man von den jungen Leuten widerspruchslos erwartete!

Und dann kommt so einer wie Hans-Peter daher, der seine eigene Meinung vertritt, der aufmüpfig ist und über den Tellerrand schaut! Der muss doch verdorben und komplett missraten sein!
Da geht der auch noch nach England und verliebt sich in eine Ausländerin! Nein, das ist wirklich unerhört!
Doch Hans-Peter lässt sich nicht beirren. Nicht nur die Liebe findet er fern seines schwäbischen Dorfes, sondern zu seinem Erstaunen auch ein viel freieres, ungezwungeneres Leben.
Ja, die Autorin hat Recht: England hat die schweren Nachkriegsjahre bereits Ende der 50er Jahre überwunden, es feiert das Leben, es tanzt und swingt. Die Zukunft gehört der neuen Leichtigkeit, die es in vollen Zügen auszukosten gilt!
Und diese unter und über der Oberfläche gleichsam brodelnde Atmosphäre ist ebenso plastisch, so fühl- und erlebbar eingefangen, wie die Zeit in Deutschland zwischen dem Anhaften an die alte und dem Aufbruch in eine neue Zeit! Die Autorin schafft es mühelos, den Leser mitten hinein zu katapultieren!

Mit dem aufrechten Hans-Peter hat Ricarda Martin darüberhinaus einen durch und durch glaubhaften Protagonisten geschaffen, dem die anderen Hauptfiguren in nichts nachstehen!
Ob es die deutschen oder die englischen Charaktere des Romans sind - man nimmt gleich Anteil an ihrem Leben, an ihren Entwicklungen, fühlt sich angezogen oder abgestoßen, bleibt nie gleichgültig.
So authentisch, wie die Autorin die Zeit schildert, in der die Romanhandlung angesiedelt ist, so authentisch sind auch die Menschen, die sich in ihr bewegen. Sie wirken vertraut, erinnern an Nachbarn, Freunde, flüchtige Bekannte, deren Nähe man sucht oder denen man lieber aus dem Weg gehen möchte. Fehlerlos ist keiner, falsche Entscheidungen mit verheerenden Folgen treffen nahezu alle von ihnen. Kurz und gut - sie sind wie aus dem Leben gegriffen!

Auch dem schwierigen und sensiblen Thema Krieg und der Kriegsbewältigung stellt sich Ricarda Martin und beschreibt einfühlsam die Empfindlichkeiten der ehemaligen Feinde, die gerade erst begonnen haben, sich einander anzunähern und dabei immer wieder Rückschläge erleiden, je tiefer man in das Herz eines erschütternden Geheimnisses vordringt, dass die Feinde von einst auf verhängnisvolle Weise verbindet und das wie ein Menetekel über den Köpfen aller, vor allem aber über Hans-Peter und Ginny schwebt und ihrer aller Leben zu zerstören droht.

Während man zwar entgegen allem Anschein darauf hofft, dass sich für die beiden Liebenden noch ein Weg zueinander auftut, ist die Autorin immer für Überraschungen und unerwartete Wendungen gut! Und so kann man sich bis zum Schluss nicht sicher sein, ob sie den längst lieb gewonnenen Helden aus der Patsche hilft oder ob sie den Ausgang einer Tragödie gewählt hat, die manchem Leser am plausibelsten erscheinen mag, angesichts dessen, was sie trennt.
Aber um das herauszufinden, sollte man sich das Lesevergnügen gönnen und selbst den Roman aufschlagen!