Rezension

Die außergewöhnliche Aufmachung täuscht leider

Die Sehnsucht des Vorlesers
von Jean-Paul Didierlaurent

Irgendwann, irgendwo in Paris lebt ein Mann namens Guylain Vignolles, der seinen Namen beinahe ebenso hasst wie seinen Beruf. Er arbeitet in einer Papierverwertungsfabrik, die überschüssige und alte Bücher zu einem Brei verarbeitet, um damit neue Bücher herstellen zu können. Er hasst die Maschine, die er Bestie nennt. Er hasst seinen Kollegen Brunner und seinen Chef. Er hasst den Geruch. Er hasst den Job so sehr, dass er sich ständig übergeben muss und Albträume bekommt. Er hasst ihn so sehr, dass er jeden Abend als Akt der Rebellion beim Saubermachen der Maschine jene Blätter einsammelt, die von der Zerstörungswut verschont geblieben sind, sie zwischen Löschpapier legt und seinen Mitreisenden am nächsten Morgen vorliest. Nur durch das Vorlesen - was er nicht für die anderen, sondern für sich tut - erscheint ihm sein Job ein klein bisschen erträglicher. Und dann findet er eines Tages den USB-Stick mit Julies Tagebuch und die geretteten Seiten sind vergessen. Endlich hat er etwas gefunden, dass seinem Leben einen Sinn gibt: die Suche nach ihr.

Wie man schon erkennen kann, ist Guylain nicht der typische Romanheld. Er bezeichnet sich selbst als Außenseiter, er ist ein ziemlicher Softie, er übergibt sich ständig, ist schüchtern, redet abends mit seinem Goldfisch und seine zwei besten Freunde sind der Wachmann der Fabrik, der nur in Reimen redet, und Guiseppe, der in der Fabrik gearbeitet hat, bis er bei einem Unfall beide Beine verloren hat und seitdem versucht, alle Bücher zu sammeln, die aus dem Papierbrei hergestellt wurden, indem auch seine Beine sind. Es wirkt alles ein bisschen überzogen und ist für mich gleichzeitig nicht greifbar. Vielleicht soll einiges davon witzig sein, aber dann trifft es meinen Humor nicht. Für mich blieben die Figuren trotz ihrer teilweise außergewöhnlichen Beschreibung oberflächlich. Sie sind viel zu einseitig gezeichnet und werden auf ein besonderes (absurdes) Merkmal beschränkt. Wie gesagt, vielleicht soll das witzig sein.

Meine Hoffnung war bei dem Titel und dem Cover, dass es irgendwie auch um die Kunst des geschriebenen Wortes geht, oder um den Zauber des Vorlesens. Dass mich eine schöne Sprache, ein besonderer Schreibstil erwartet, dass die Geschichte trotz der oberflächlichen Figuren schön geschrieben ist. Klar, die anderen Zugfahrer hören ihm gerne zu und auch die alten Leute im Seniorenheim, aber nur, weil sie keine Alternative haben. Fakt ist leider, dass die Sprache furchtbar platt und umgangssprachlich ist. Beispielsweise ist ständig von den "Fürzen", die die Bestie absondert, die Rede. Oder von den "vollgekackten Kabinen", die Julie putzen muss. Ich erkennen auch keinen nennenswerten stilistischen Unterschied zwischen dem Haupttext, den geretteten Seiten und Julies Tagebucheinträgen. Es ist alles ein grauer, langweiliger Einheitsbrei, wie das Zeug, das die Bestie absondert. Aus diesem Grund weiß ich nicht, ob ich froh oder enttäuscht sein soll, dass das Buch so unfassbar kurz ist. 224 Seiten sind es, aber der Zeilenabstand ist groß, die Schrift ist groß und dadurch, dass jedes Mal eine neue Seite angebrochen wird, wenn ein gerettetes Schriftstück oder ein Tagebucheintrag anfängt oder aufhört, gibt es zahllose Seiten, auf denen vielleicht die ersten drei oder vier Zeilen bedruckt sind. Der Rest bleibt leer. Es ist so kurz, dass ich es in zwei Stunden durchgelesen hatte. Und so schnell lese ich nicht. So kommt es auch, dass die Geschichte mit Julie, die den Hauptaspekt des Klappentextes bildet, sehr rasch abgehandelt und nicht einmal wirklich zu Ende erzählt wird. Das Buch selbst ist wie eines der Fragmente, die der Vorleser täglich rettet. Aber anders als die Passagiere, denen er täglich vorliest, habe ich mehr erwartet.  

Die Sehnsucht des Vorlesers hat Potenzial, auf jeden Fall. Allein schon durch das Cover, und die ungewöhnliche Aufmachung. Durch die braune Schriftfarbe. Durch den linksbündigen Satz im Haupttext. Durch die farblich unterschiedlicher gedruckten Seiten, mit denen man den Haupttext, die geretteten Seiten und das Tagebuch auseinander halten kann.  Aber leider finde ich, dass der Text sein Potenzial nicht einmal annähernd ausschöpft. Die anfängliche Dramatik der Bücher verschlingenden Bestie und die Zerstörungswut der anderen Mitarbeitet hat mich an Bradburys Fahrenheit 451 erinnert, aber Die Sehnsucht des Vorlesers ist weder so dramatisch noch ist es eine Dystopie. Ich würde es auch auf keinen Fall als Liebesgeschichte beschreiben. Es ist einfach eine Geschichte. Ich glaube, in der ganzen Rezension klingt mit, wie enttäuscht ich bin. Ich habe wohl ein besonderes Buch erwartet, oder doch zumindest ein schönes (schön geschrieben oder mit einer schönen Geschichte), aber keine dieser Erwartungen wurde erfüllt. 
 

(c) Books and Biscuit

Kommentare

katzenminze kommentierte am 23. Oktober 2015 um 18:54

Du sprichst mir aus der Seele. Ich bin noch nicht ganz durch aber schon enttäuscht. Von den simplen Charakteren und der Sprache her hat es mich vor allem zu Anfang an ein Kinderbuch erinnert... Danke für deine Rezi!