Rezension

Die ganz andere Krebsgeschichte - ironisch, ehrlich, überraschend

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen - Heike Vullriede

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
von Heike Vullriede

Bewertet mit 4.5 Sternen

Marvin Abel ist vermeintlich in der besten Zeit seines Lebens - und erfährt, dass er sterben muss. An einem Hirntumor, und das schon bald. Eine Chemotherapie kann das Unvermeidliche nur ein wenig aufschieben, und so zwingt diese Krankheit Marvin dazu, sich mit dem Loslassen und Abschiednehmen auseinanderzusetzen.

In den letzten Jahren gab es auf einmal jede Menge Krebsgeschichten. Vermeintlich hat man also alles schon mal gelesen - doch dieses Buch weiß zu überraschen. Ja, auch hier geht es um einen Sterbenden, einen unheilbar an Krebs erkrankten Menschen. Dennoch ist so vieles anders in dieser Geschichte, dass ich jedem nur empfehlen kann, wenigstens noch diese eine weitere Krebsgeschichte zu lesen.

Der Roman ist komplett aus Marvins Sicht geschrieben. Dadurch erfährt der Leser wirklich nur das, was Marvin weiß, sieht, hört und versteht. Sehr intensiv begleitet man ihn somit auf seiner Reise durch die verschiedenen Phasen seiner Krankheit. Dies bezieht sich sowohl auf die physischen Effekte - ungeschönt und völlig unromantisch wird der Verlust der Körperkontrolle und das einhergehende gezwungene Unterdrücken jeglicher natürlicher Schamgefühle beschrieben - als auch die psychischen Veränderungen. Klar erkennbar sind die klassischen Schritte von Verleugnen über Wut, Angst und später Akzeptanz. Doch all das geschieht auf eine sehr spezielle Weise, denn Marvins Sicht der Dinge ist nicht unbedingt die des glorreichen Helden, der über seiner Krankheit steht. Er kommt teilweise sehr unsympathisch daher und trotzdem fesselt er einen, man will ihn verstehen und den Weg mit ihm gehen.

Allerdings macht Marvin es einem manchmal schwer; sein sehr ironischer Unterton schreckt bestimmt manch einen Leser ab. Mir jedoch hat diese Herangehensweise sehr gut gefallen, denn die meisten Bücher über Krebs und das Leiden sind doch hoffnungslos unrealistisch, verklärt zu einer perfekten Romanze im letzten Atemzug. Wer sich auf eine solche typische Geschichte freut, dürfte hier enttäuscht sein. Wer sich jedoch öffnet für eine andere Art, eine Geschichte, die ist, wie das Leben wirklich ist, unvorhersehbar, mit unerwarteten Wendungen und vor allem mit brutaler Ehrlichkeit, der dürfte dieses Buch kaum aus der Hand legen können.

Der Schreibstil ist sehr flüssig und prägnant, man wird an der Hand genommen und doch durch die Sprünge in der Handlung bzw. Marvins teils wirre Sicht auf die ihn umgebenden Dinge und Personen immer wieder ins kalte Wasser gestoßen. Keiner der Protagonisten ist, was er am Anfang zu sein scheint, und auch das Ende weiß zu überraschen, wenn man gerade denkt, man weiß jetzt, was passieren wird. Ein Buch, das mit den großen Fragen des Lebens spielt, was wirklich wichtig ist, und ob es eine objektive Sicht auf das eigene Leben geben kann. Ein Buch, das definitiv nachhallt, wenn man bereit ist, sich voll darauf einzulassen. Und eines, das mit Sicherheit nicht einfach ist, etwas sperrig sein will, Gedanken auslöst, die man vielleicht, je nach eigener Situation, nicht denken möchte. Aber dabei trotzdem absolut wert ist gelesen zu werden.

Ich vergebe 4,5 Sterne für ein Buch, das endlich einmal anders mit dem Thema Krebs umgeht, das es sich erlaubt, ironisch und brutal und ehrlich zu sein.