Rezension

Die im Dunkeln sieht man nicht

Im Hause Longbourn - Jo Baker

Im Hause Longbourn
von Jo Baker

Stolz und Vorurteil von unten: Im Haus Longbourn wohnt die Familie Bennet - Der Vater, der sich am liebsten in die Bibliothek zurückzieht, die Mutter, die oberflächlich durch den Tag gleitet, und die fünf Töchter, die sie so gern standesgemäß verheiraten will. Das ist mit Irrungen und Wirrungen, Stolz und Vorurteil, Verstand und Gefühl verbunden. Im Roman von Jane Austen wird das damalige England der kleinen Gutsbesitzer lebendig.

Aber die Geschichte hat auch noch eine andere Seite: Im Haus leben noch der Butler Mr. Hill und seine Frau, die Haushälterin, die etwa zwanzigjährige Sarah und die zwölfjährige Polly, die Hausmädchen. Weitere Bedienstete wie die Stallburschen und Pächter werden nur am Rande erwähnt. Diese Personen spielen bei Austen nur eine Randrolle; sie sind nötig, damit die verschmutzte Kleidung gewaschen, das Essen serviert, eine Botschaft zugestellt wird. Doch auch sie sind Menschen mit eigenen Gefühlen, mit besonderen Persönlichkeiten, mit Wünschen und Träumen, mit Sorgen und Ängsten.

Sarah, etwa gleichaltrig mit Elizabeth, macht sich Gedanken um den neuen Hausdiener James: Er erzählt nichts über seine Vergangenheit, verhält sich sehr zurückhaltend und ist dabei doch gleichzeitig sehr hilfsbereit. Warum erschrickt er so, wenn er die Soldaten der Miliz sieht? Hat er etwas zu verbergen? Und da ist auch noch der Hausdiener der neuen Nachbarn, ein Mulatte, der nicht nur aufgrund seines exotischen Aussehens faszinierend wirkt. Sarah wird sich langsam ihres Körpers bewusst, sie entwickelt Interesse an den Männern, und sie beginnt sich auch eine andere Zukunft zu phantasieren...

Der Alltag der Hausmädchen ist hart: Morgens früh müssen der Kamin gereinigt und das Feuer geschürt werden, damit die Herrschaft es warm hat, wenn sie - Stunden später - aufsteht; Wasser muss vom Brunnen geschleppt und gewärmt werden; alle Wäsche wird von Hand gewaschen (und da ist es stundenlange Zusatzarbeit, wenn die Damen des Hauses im Aufruhr der Gefühle ihre Petticoats im Matsch schleifen lassen); Mahlzeiten müssen vorbereitet, gekocht, serviert werden; Geschirr wird von Hand gespült und Töpfer werden gescheuert; die Böden geschrubbt, das Silber poliert, der Nippes abgestaubt... Damit nicht genug, die Herrschaften müssen bedient werden: Die Damen brauchen Hilfe beim An- und Auskleiden, und auch das Lockenlegen mit der Brennschere dauert lange. Der Alltag für Sarah ist hart und mühevoll und es gibt kaum Ruhepausen. Eine bessere Zukunft ist nicht in Sicht.

Jo Baker malt den Alltag der kleinen Leute und fügt damit dem Roman von Austen eine neue Perspektive hinzu: Die Handlung von Austen wird getreu widergespiegelt; die Zitate, die den Kapiteln voranstehen, vertiefen das. Dennoch ist das Buch nicht einfach nur ein Abklatsch. Die Dienstboten haben ihre eigene Persönlichkeit, und Sarah steht Elizabeth in ihrem Charakter nicht nach, auch wenn sie nicht die gleichen Chancen hat. Auch hier gibt es Stolz und Vorurteil, gibt es Verstand und Gefühl. Baker bleibt den Figuren von Austen treu und nimmt nur minimale Veränderungen vor; die zusätzlichen Personen werden mit Anteilnahme gezeichnet und gewinnen Persönlichkeit. Sarah wächst über ihre Rolle als Dienstmädchen hinaus. Das Leben besteht nicht nur aus Pflicht, und Glück findet man nicht nur in der Pflichterfüllung. Hier zeichnet Baker einen modernen Charakter, der in der damaligen Zeit wohl nur schwer denkbar ist. 

Mir hat der Roman gut gefallen. Der Inhalt spricht mich an, der Schreibstil ist flüssig zu lesen und bringt führt dem Leser plastische Schilderungen vor das Auge. Auch die Liebesgeschichte gefällt. Eine gute Unterhaltung, die einige Gedanken anstößt: Zum einen um die damalige Zeit, über die die Geschichtsschreibung meist nur aus Sicht der Höhergestellten berichtet, und zum anderen über den interessanten Perspektivenwechsel, den ich mir bei vielen anderen Büchern auch vorstellen kann. Auch wenn dieses Buch nicht viel an Handlung aufweist, ist es für mich doch lebendig. Die Idee, bekannte Geschichten aus anderer Perspektive zu erzählen, ist nicht neu; so hat Joan Aiken schon mehrere Romane um Nebenfiguren von Jane Austen geschrieben. Jo Baker ist eine würdige Nachfolgerin, weitere Bücher von ihr werde ich gern lesen.