Die Kunst, mit Worten zu malen...
Bewertet mit 4 Sternen
„Nicht die Abbildung der Wirklichkeit ist das Ziel der Kunst, sondern die Erschaffung einer eigenen Welt.“ (Fernando Botero)
Dieser Roman beginnt wie ein Paukenschlag. Der 26-jährige Karl, Sohn eines gefeierten Künstlerehepaares, ist auf dem Weg in die Heimat, um seinen Vater zu beerdigen und seine Mutter ein letztes Mal zu sehen. Während ihrer wenig aussichtsreichen Operation erhängte sich der Vater in der gemeinsamen Villa in Leinsee, da er sich ein Leben ohne seine Frau nicht vorstellen konnte. Die Liebe von Ada und August Stiegenhauer war legendär, fast noch legendärer als ihre berühmten Harzskulpturen. Ada und August, August und Ada – die beiden waren sich in ihrer Zweisamkeit immer genug, Karl hatte darin keinen Platz. Nun kehrt er nach langer Zeit zurück in das Haus seiner Kindheit, nach dem er sich all die Jahre im Internat gesehnt hat und das ihm doch so fremd ist und muss sich seiner Vergangenheit stellen... Doch was hat es mit dem kleinen Mädchen auf sich, das immer öfter im Kirschbaum sitzt oder durch den Garten streift und ihn zu beobachten scheint?
Anne Reinecke ist mit ihrem Debüt auf jeden Fall ein kleines Kunstwerk gelungen, denn dieser Roman liest sich wie im Rausch! Mit Worten erschafft sie eine eigene Welt, die sich die Wirklichkeit nicht besser hätte ausdenken können – und die ist doch schon verrückt genug!
Tod, Trauer, Liebe, Freundschaft, Versöhnung, Emanzipation, Kunst und Entwicklung – kurz und knapp gesagt sind das die Schlagworte dieses Romans. Schon oft gehört, schon oft gelesen. Und doch ist hier ein einzigartiger, innovativer Roman entstanden und das verdanken wir Reineckes Sprache. Ihr Stil ist locker leicht, süffig wie guter Wein, manchmal flapsig, manchmal ein wenig derb, kräftig gewürzt mit feinem, trockenen Humor und trotz der alltäglichen Sprache kunstvoll, poetisch und voller Bilder und liebevoller Details. Alltagsbeschreibungen wie diese „Im Spiegel fischte er nach seinen Augen“ (S. 9) lassen einen vergessen, dass Reinecke einen Debütroman geschrieben hat und Bilder wie dieses „Die Mutter lachte auch, die Lachen mischten sich und schwirrten wie Sommermücken um die Köpfe. [...] Sie konnten nicht aufhören, sie prusteten und kicherten [...], es war, als versuche man, überkochende Milch mit einem Deckel im Topf zu halten, keine Chance.“ (S. 198 f.) wirken wie auf Leinwand gepinselt. Reinecke schreibt nicht, sondern sie malt eine Geschichte mit Worten und setzt ihre Pinselstriche dabei genau und präzise. Ich sah Wassertropfen an der Hautoberfläche abperlen, ich sah Karl in seiner Betthöhle aus gesammelten Fundstücken liegen und ich sah eine verrückte, sommerliche Teeparty im Stil von Alice im Wunderland. Die Autorin spielt mit Farben, Kompositionen und Hintergründen, mit Personen, Orten und Handlungssträngen.
Hier setzt leider, leider auch meine Kritik an. Dieses Buch fing perfekt an und versetzte mich immer wieder in Staunen und positives Gefühlschaos. Doch für meinen Geschmack entwickelt sich der Roman zum Ende hin in eine Richtung, die ich zwar vorhergesehen, aber doch weit von mir gewiesen habe. Meiner Meinung nach wirkt die Geschichte nicht rund, da einige Themen und Ideen zu den Personen und zwischenmenschlichen Beziehungen nicht konsequent zu Ende gedacht wurden und einer neuen Entwicklung zum Opfer gefallen sind. Mehr kann ich nicht sagen, ohne zu viel zu verraten. Einen Stern Abzug gibt es dafür auf jeden Fall!
Kommentare
parden kommentierte am 25. März 2018 um 10:13
Wirklich ein beeindruckendes Debüt - und ich verstehe, dass diese Entwicklung am Ende des Romans nicht jedermans Geschmack trifft! Eine schöne Rezension!