Rezension

Die Nachtigall hat gesungen

Die Nachtigall
von Kristin Hannah

Bewertet mit 4.5 Sternen

"Irgendetwas über das Croix de Guerre. Hat das etwas mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun? Geht es um Dad?"
Tja. Männer denken immer, der Krieg hätte nur mit ihnen zu tun.

Vianne und Ihre Schwester sind teilweise ohne Eltern aufgewachsen. Besonders die jüngere Isabelle leidet seitdem unter dem Gefühl, abgeschoben zu werden, ganz besonders durch den Vater, der völlig verändert aus dem ersten Weltkrieg zurückkehrte. Auch jetzt, da die Deutschen in Paris einrücken und er sie aufs Land schickt, um sie zu schützen, hat sie das Gefühl, dass er sie nur loswerden möchte. Sie kennt den Krieg noch nicht, wird ihn aber bald kennenlernen. Auf die allgemeine Verwirrung während der überraschenden Besetzung durch die Deutschen reagieren beide Schwestern völlig unterschiedlich. Isabelles patriotische Gefühle erwachen, und die gerade mal Siebzehnjährige will sich unbedingt der Résistance anschließen, während Vianne, bereits Mutter, sich vor allem Sorgen macht, wie sie ihre Familie in diesen unsicheren Zeiten durchbringen soll. Beide Schwestern, jede auf ihre Weise anfänglich noch sehr naiv, wachsen mit den Herausforderungen allmählich über sich selbst hinaus. Isabelle soll zu jener wichtigen Verbindungsperson werden, die zahllose abgestürzte alliierte Piloten heimlich über die Pyrenäen nach Spanien bringt und ihnen so das Leben rettet.

"Allzu oft werden die Geschichten von Frauen im Krieg übersehen und vergessen. Frauen neigen dazu, aus dem Kampf zurückzukehren, zu schweigen und mit ihrem Leben weiterzumachen", schreibt Kristin Hannah in ihrem Nachwort. Diese Frauen hat die Autorin in der "Nachtigall" eindrücklich portraitiert. Was spielt es am Ende noch für eine Rolle, dass die Geographie der Pyrenäen nicht ganz korrekt wiedergegeben wurde, dass die Nachtigall tatsächlich Nachtigall heißt und ein sehr verräterischer Deckname ist? Es spielt auch keine Rolle, dass es mir nicht so gut gefällt, ständig kleine einfache Redewendungen wie "Mon Dieu" in französisch neben der Erzählsprache zu lesen - soll man dadurch daran erinnert werden, dass die Geschichte in Frankreich spielt? Vielleicht hört es sich ja auch im amerikanischen Original weniger aufgesetzt an? - Vor dem grandiosen und atemberaubenden Gesamtszenario und der mitreißenden Sprachgewalt diese Epos verblassen solche Inkorrektheiten zu Erbsenzählereien. Vielleicht wusste die Autorin auch nicht, dass Basken untereinander baskisch sprechen und dass das wirklich kein Mensch verstehen kann, aber unterm Strich hat sie schon eine sehr gute Recherchearbeit geleistet. Wenn ich auch einige Kapitel gebraucht habe, um das voll anerkennen zu können.

In eindrücklichen Bildern schildert die Autorin das Hineinschlittern des ahnungslosen französischen Volkes in den Albtraum der Nazi-Besatzung. Zu dieser Ahnungslosigkeit passt eine anfängliche Oberflächlichkeit der Kommunikation der Hauptfiguren, die mich zunächst etwas gestört hatte, die sich aber im Fortlauf der Handlung verflüchtigt und sich im Nachhinein stimmig in das Gesamtbild einfügt.

Es gibt einen einzigen Kritikpunkt, den ich aufrechterhalten muss:

Wie die Flüchtlinge aus Paris auf das Viannes Haus in Carriveau zukommen - da hatte ich doch den Eindruck, die Autorin hat zu viele Zombiefilme gesehen. Das gibt es nicht, so eine Wand von wandelnden Halbleichen, die nach drei Tagen Pilgerschaft alle in einer Reihe wie die Heuschrecken in ein Dorf einfallen. Jeder Mensch hat sein eigenes individuelles Wandertempo. Das streut sich. Außerdem gab es viele Fahrradfahrer, die schon eher hätten da sein müssen. Das ist ja nicht so wie beim Syrienkrieg, dass es plötzlich nur noch einen Korridor gibt. Es gibt Weggabelungen. Die eine führt in das Dorf A, die andere in das Dorf B. Und tausende Felder gibt es, die die Flüchtenden auf ihrem Weg gen Westen hätten überqueren können. Hier gehen sie alle über ein Einziges, als hätten sie einen Marschbefehl ... Mir gefällt es überhaupt nicht, dass mir als Leser ein solches Bild von Flüchtlingen im Hirn implantiert wird.

Abgesehen davon: Es ist ein bedrückender und zugleich wunderbar hoffnungsfroher Roman. Er nennt Dinge beim Namen, die mancher lieber unausgesprochen ließe. Ich habe nicht damit gerechnet, einiges mir vom Hörensagen vertraute so nah in diesem Buch beschrieben zu bekommen. Das moralische Empfinden wird beim Lesen in Bewegung versetzt; man erregt sich, fällt sein Urteil, revidiert es wieder, staunt, hofft, ist fassungslos. Und man begreift: Es gibt wahre Heldentaten, und sie sind anders, als wir sie uns vorgestellt haben.

Kommentare

Naibenak kommentierte am 04. November 2016 um 10:22

Sehr schöne und informative Rezi! Danke dir! Ich denke, das lese ich auch noch ;-)

Bücherteufelchen7000 kommentierte am 09. November 2016 um 11:38

Deine Rezi weckt in mir die Vermutung, dass dies ein polarisierendes Buch ist. Da bin ich doch gerne dabei, du hast mein streitbares INteresse geweckt :-)
Lob für deine ausführliche und gründliche Rezi <3

marsupij kommentierte am 02. Januar 2017 um 11:52

eine tolle Rezi. Bei den Basken habe ich auch gestutzt.

Und mit den Zombies, ja, die Vorstellung hat was