Rezension

Die Opfer der RAF

Schlaf der Vernunft
von Tanja Kinkel

Bewertet mit 5 Sternen

~~1998: Angelika ist verheiratet und lebt mit Mann und Kindern ein eher unaufgeregtes Leben, als sie eines Tages Post bekommt. Nach 20 Jahren steht die Begnadigung ihrer Mutter Martina bevor, die ein Mitglied der RAF war und als Terroristin und Mörderin verurteilt wurde. Angelika, die ohne Mutter aufwuchs und in all den Jahren keinerlei Beziehung zu ihr hatte, soll Martina nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis beim Start in ein neues Leben unterstützen. Doch Martinas Taten sind noch nicht vergessen, vor allem die Familien der Opfer leiden noch heute darunter. Auch Angelika stellt sich insgeheim die Frage, ob sie den Kontakt zur Mutter überhaupt will. Wird sich zwischen Angelika und Martina eine Mutter-Tochter-Beziehung entwickeln? Wird Martina sich Angelikas Fragen öffnen und ihr Antworten liefern? Und wie gehen die Opferfamilien und –angehörigen mit der neuen Situation um?
Tanja Kinkel hat mit ihrem Buch „Schlaf der Vernunft“ diesmal einen Roman über eines der schwärzesten Kapitel der jüngsten deutschen Geschichte vorgelegt. Der Schreibstil ist flüssig und weiß den Leser zu fesseln. Die Handlung wechselt mit den Kapiteln zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, beleuchtet eine fragile Mutter-Tochter-Annäherung, aber auch die Leiden der Hinterbliebenen der Opfer. Der Spannungsbogen ist sehr schön angelegt und hält sich bis zum Ende unvermindert auf sehr hohem Niveau. Die Autorin hat akribische Hintergrundrecherche über die RAF betrieben und diese sehr geschickt mit ihrer fiktiven Handlung verwoben, so dass der Leser bei der Lektüre das Gefühl nicht los wird, genau so müsse es gewesen sein.
Die Charaktere sind tiefgründig und psychologisch sehr gut ausgestaltet und lassen den Leser immer wieder zweifeln, wie er in der einen oder anderen Situation gehandelt hätte. Martina ist eine Frau, die von der Ideologie der RAF eingenommen ist, bis sie selbst sich entschließt, Mitglied zu werden und auch vor Gewalt nicht zurückschreckt. Ihren Idealen opfert sie sogar ihr Kind Angelika, das sie weggibt, um sich weiterhin aktiv zu beteiligen und sich zu radikalisieren. Angelika lebt ein ruhiges und beschauliches Leben mit Mann und Kindern und will eigentlich von der Mutter nichts wissen. Doch innerlich hat sie viele Fragen, die sie gern beantwortet haben möchte, vor allem, um ihren eigenen Frieden zu finden und den Makel der Mutter loszuwerden. Auch die anderen Charaktere, die durch die Entlassung von Martina wieder an die fatalen Folgen in ihrem Leben erinnert werden und sich erneut mit der Vergangenheit auseinandersetzen müssen, werden hervorragend in Szene gesetzt und zeigen die Konflikte von Rache und Verzweiflung auf.
„Schlaf der Vernunft“ ist eine Lektüre der besonderen Art, fast schon ein Kriminalroman mit authentischem Hintergrund. Man merkt dem Buch an, dass die Autorin sich lange mit dem Thema beschäftigt hat und die Frage nach Einsehen und Reue, nach Vergebung und Vergeltung nicht so einfach zu beantworten ist. Absolute Leseempfehlung für ein außergewöhnlich erzähltes Stück deutscher Geschichte. Chapeau!