Rezension

Die Suche nach Mut und innerer Stärke

Bis an die Grenze - Dave Eggers

Bis an die Grenze
von Dave Eggers

Bewertet mit 4 Sternen

Josie, alleinerziehende Mutter zweier Kinder, ist verzweifelt: Ihre Zahnarztpraxis musste sie nach einem Rechtsstreit aufgeben; der Erzeuger ihrer Kinder will diese seiner neuen Verlobten vorstellen; Josie fühlt sich verantwortlich für das tragische Schicksal eines jungen Mannes und zu guter Letzt lastet der Druck der Gesellschaft und deren Normen auf ihr.

"Sie war fertig, weg. Sie hatte es bequem gehabt, und Bequemlichkeit ist der Tod der Seele, die von Natur aus auf der Suche ist, beharrlich, unbefriedigt. Diese Unzufriedenheit veranlasst die Seele fortzugehen, sich zu verlaufen, zu verirren, zu kämpfen und sich anzupassen. Und Anpassung ist Wachstum, und Wachstum ist Leben." (S. 34)

Und so sieht sie nur einen Ausweg und fliegt kurzerhand mit ihren Kindern Paul und Ana nach Alaska, um sich dort mit einem gemieteten, altersschwachen Wohnmobil in die Wildnis abzusetzen. Das ist der Beginn eines tragisch-komischen Roadtrips, einer Suche nach Mut und Reinheit, die Josie und ihre Kinder bis an ihre Grenzen und vielleicht auch darüber hinaus führt.

Leseeindruck

Mit "Der Circle" hat mich Eggers 2014 überzeugen können, wenn auch nicht komplett aber die Story vibrierte noch lange nach und stimmte mich nachdenklich. In "Bis an die Grenze" beschäftigt sich der Autor mit einem augenscheinlich anderem Thema und doch schlägt er auch hier gesellschafts- und sozialkritische Töne an. Seine Protagonistin Josie ist keine Heldin im klassischen Sinne, ganz im Gegenteil, trumpft sie doch erschreckend oft mit fragwürdigen (und in meinen Augen auch gänzlich falschen) Entscheidungen auf. Oberflächlich betrachtet ist Josie sowohl als Mutter, als auch als funktionierendes Teilrädchen der Gesellschaft völlig überfordert und wählt deshalb ständig den Weg der Flucht. So läuft sie davon: Vor ihrem gutmütigen aber "Geister-Anhängsel-Partner" Carl, der nie für sie oder die Kinder da ist; der Pflegemutter Sunny und "Schwester" Sam; der ruinierten Zahnarztpraxis und letztlich auch vor den Geistern der Vergangenheit. Lediglich ihre Kinder, die eigentlichen Helden der Geschichte, erden sie - allen voran der engelsgleiche und für seine acht Jahre viel zu reife Paul, der sich wie ein Vater hingebungsvoll um seine drei Jahre jüngere, chaotische Schwester Ana kümmert. Paul ist besonnen, hat einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und ist von Grund auf ehrlich und nachdenklich. Ana musste sich als Frühchen ins Leben kämpfen und schreitet seither beinahe (selbst-)zerstörerisch durch dieses. Besonders zu Beginn der Geschichte hat man fast den Eindruck, als übernehme Paul die Rolle des Entscheiders und ahnt bereits, dass dies ungesund und gefährlich ist. Ständig schwingt unheilvoll die dunkle Andeutung von Tragik und Unglück bei dem Geschriebenen mit. Josie manövriert sich und ihre Kinder von einem Chaos ins Nächste, lässt den Leser dabei Schmunzeln, Bangen und Hoffen oder auch einfach nur Kopfschütteln.
Ja, Josie ist mir bis zuletzt unsympathisch und teilweise unverständlich geblieben und ich kann etliche Handlungen (vor allem im Hinblick auf ihre Kinder) überhaupt nicht nachvollziehen aber sie polarisiert und dies absolut. Hat sie Probleme? Auf jeden Fall und zwar tiefliegende, seelische Probleme. Kann sie deshalb keine gute Mutter sein? Die Frage kann ich nicht beantworten aber sie stellte sich mir öfter bei der Lektüre und ich vermute das war auch eine Intension Eggers. Was macht uns zu einem funktionierendem Teil der Gesellschaft? Wie ist Richtig und Falsch definiert? Ist Frau eine schlechte Mutter, weil sie Vollzeit berufstätig ist und deshalb zu einigen Schulveranstaltungen nicht kommen kann oder weil sie eigene Bedürfnisse hat, die sich nicht mit denen der Kinder decken? Hat Josie in ihrem Job versagt, weil sie womöglich einen Fehler gemacht hat, der vielleicht gar keiner war? Ist sie verantwortlich für das Schicksal eines Mannes nur weil sie ihn in seiner Entscheidung unterstützt hat? Ist sie keine gute Partnerin, weil ihr Lebensgefährte nicht den Mut oder die Reife hatte, sie zu heiraten?

"Zu einer Zeit, als sie an ihrem Platz in der Welt zweifelte, daran zweifelte, dass sie irgendetwas richtig machte, daran zweifelte, dass ihre Haut wirklich ihre war, (...) gewann sie durch das Betrachten der stillen Langeweile im Leben von allen anderen neues Selbstvertrauen." (S. 303)

"Ich bin müde", sagte Josie, und damit meinte sie, dass sie es müde war, von der Welt getrennt zu sein." (S. 304)

In Rückblicken erfährt der Leser Stück für Stück, welche Ereignisse zu Josies Flucht führten. Der komplexe Charakter der Protagonistin wird nach und nach aufgedröselt, einer Zwiebel gleich Schicht für Schicht entblättert. Zu guter Letzt offenbart sich dem Leser der verletzliche und nackte Teil Josies und erst dann konnte ich einen Zugang zu ihr finden. Mit ihr identifizieren konnte ich mich allerdings zu keiner Zeit und das machte die Lektüre für mich zu einer Herausforderung. Die Mischung aus Tragik, Humor und leiser Wehmut konnte mich dennoch fesseln und entbehrt nicht einer gewissen Spannung. Trotz kleinerer Längen wollte man die chaotische aber heilsame Reise mit den drei Charakteren fortführen, ans Ziel gelangen und die Hoffnungen Josies erfüllt wissen. Ob dies auch geschieht, das muss jeder selbst herausfinden.

Eggers gelingt es mit dieser ungewöhnlichen, nicht immer nachvollziehbaren und stellenweise seltsam anmutenden Geschichte, den Leser aufzurütteln, ihn zum Nachdenken und zum inneren Resümee zu zwingen. Er erzählt eine Geschichte, die man nicht nur von einer Perspektive aus betrachten und beurteilen sollte. Das Leben ist keine Einbahnstraße und geht oft verschlungene Wege, so wie es Josie tut. Niemand sollte das Leben eines Menschen bewerten, egal ob gut oder schlecht. Bei der Lektüre dieses Romans sollte man sich immer wieder vor Augen halten, dass die Beweggründe eines Menschen vielschichtig und komplex sein können, ganz so wie er selbst. Gelingt einem das, so offenbart "Bis an die Grenze" eine facettenreiche und unterhaltsame Geschichte mit ernsten aber auch komischen Tönen, die noch lange nachhallt.

" (...) und für diejenigen unter uns, die einmal oder zweimal oder öfter zermalmt worden sind und es irgendwie geschafft haben weiterzumachen, ist es weitaus wichtiger zu wissen, was man nicht will, als zu wissen, was man will." (S. 315)

Fazit

"Bis an die Grenze" ist eine abenteuerliche Reise, eine Suche nach Mut und innerer Stärke, die mit jeder gelesenen Seite ein Chaos an Emotionen beim Leser hervorruft. Es ist eine komplexe Geschichte mit vielschichtigen Charakteren und einem teilweise scharfsinnigen Blick auf die Gesellschaft. Je länger dieser Roadtrip bei mir nachklingt, desto nachdenklicher stimmt er mich. Und so lässt mich Eggers ergriffen und beeindruckt aber auch mit einem leichtem Kopfschütteln zurück.

"Mut war der Anfang, furchtlos sein, weitergehen, trotz kleiner Entbehrungen nicht kehrtmachen. Mut war einfach eine Form von Weitergehen." (S. 415)

Kommentare

Steve Kaminski kommentierte am 22. Juni 2017 um 20:32

Eine gute, interessante Rezi - danke. Zusammen mit der Rezension von Wandagreen klingt es, als solle man das Buch lesen. 

yvy kommentierte am 15. Juli 2017 um 00:33

Danke dir. Wandas Rezi ist sehr gelungen, habe sie auch gern gelesen. Ich bin sehr gespannt auf deine Meinung. ;)

LySch kommentierte am 26. Juli 2017 um 09:41

Wundervolle Rezi! Du hast sehr gut herausgearbeitet, was das Buch transportieren soll! Habe es auch gelesen und bin restlos begeistert! :)

yvy kommentierte am 26. Juli 2017 um 11:05

Danke dir.
Ich geh dann jetzt mal deine Rezi lesen. ;)