Rezension

Die unsichtbare Wut des Herzens

Cyril Avery
von John Boyne

Bewertet mit 3.5 Sternen

Seit seiner Geburt steht Cyril Averys Leben unter einem ungünstigen Stern. Als uneheliches Kind hat er nämlich keinen Platz in der konservativen irischen Gesellschaft der 1940er Jahre. Ein exzentrisches Dubliner Ehepaar nimmt ihn in die Familie auf, doch auch dort findet er nicht das Zuhause, nach dem er sich sehnt. In dem katholischen Jungeninternat, auf das sie ihn schicken, lernt er schließlich Julian Woodbead kennen und schließt innige Freundschaft mit ihm. Bis er mehr für den rebellischen Lebemann zu empfinden beginnt und auch dieser Halt für ihn verloren geht. Einsam und verzweifelt verlässt Cyril letztendlich das Land – ohne zu wissen, dass diese Reise über Amsterdam und New York ihn an den Ort führt, nach dem er immer gesucht hat: Heimat. (Piper-Verlagsseite)

Anhand des Lebens seines Protagonisten entrollt Boyne die Geschichte Irlands ab der Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute und zwar mit der von der katholischen Kirche, ihrer Doppelmoral und ihren restriktiven Geboten bestimmten Gesellschaft im Fokus. Cyril Avery, das unehelich geborene und von niemandem geliebte Kind, entdeckt seine Homosexualität und führt als junger Erwachsener am Tag das geordnete Leben eines korrekten Bürgers und treibt sich nachts in dunklen Parks und Hinterhöfen herum, um seine sexuellen Begierden zu stillen. Erst als er England verlässt und nach Amsterdam, später nach New York zieht, kann er seine Veranlagung offen zeigen und findet einen Partner. Bis Aids, als „Schwulenseuche“ geächtet, neue Vorurteile schürt.

Das Buch beginnt mit einer seiner stärksten Szene: Catherine wird vom Father ihrer Gemeinde im Gottesdienst an den Pranger gestellt, mit Gewalt aus Kirche und Dorf vertrieben. Kein lautes Wort der Kritik an Kirche oder Katholizismus, sondern lediglich eine erzählte Situation mit ironischen Untertönen. Auch Catherines Mut und ihre Fähigkeit, sich mit Schläue und Warmherzigkeit durchzubeißen, gefallen.

Cyril wächst als Adoptivsohn des erfolgreichen Charles Avery, der sich für seine Steuerhinterziehungen vor Gericht verantworten muss, und seiner Ehefrau Maude, einer ketterauchenden Schriftstellerin, zwar äußerlich behütet, aber lieblos auf.

Die erste große Wendung bringt Julian in Cyrils Leben; er wird sein bester Freund, seine große unerwiderte Liebe und seine große Verzweiflung.

Julians Geplapper über Sex, die Frauen, die er schon nackt gesehen hat, und seine Vorfreude auf Geschlechtsverkehr würden ihn als pubertär darstellen; tatsächlich ist der Junge erst sieben Jahre alt.

Hier kommt zum ersten Mal der Verdacht auf, dass John Irving in etlichen Szenen Pate gestanden hat. Denn auch Cyrils Adoptiveltern wirken, als wäre sie einem Irving-Roman entsprungen: Skurril am Rande der Überzeichnung. Dick trägt Boyne auch in der Szene auf, in der Charles die Geschworenen seines Prozesses zwecks Bestechung zum Essen einlädt; nah am Slapstick wie man es auch von Irving kennt.

Auch drei merkwürdige Todesarten, stets eingefügt, wenn Cyril kurz vor einem Coming-Out oder einer Entdeckung steht, erscheinen wie dem Irving’schen Kosmos entlehnt.

Entspannend wirken die Amsterdamer Episoden; Cyril scheint angekommen und mit sich versöhnt. In New York, wohin er wegen der Arbeit seines Lebenspartners umzieht, wird er mit dem Beginn der Aids-Epidemie konfrontiert.

Es scheint Boyne sehr wichtig, die Krankheit als universale Gefahr darzustellen, mit der man sich unabhängig von der sexuellen Präferenz anstecken kann. – Hierin stellt er sich Irving zur Seite, der in „In einer Person“ die Krankheit und die Ignoranz der amerikanischen Regierung darstellt, auch wenn sie dort vor allem schwule Männer trifft.

Die Verteilung der Figuren, wie sie Cyril begleiten und in verschiedenen Stationen seines Lebens immer mal wieder auftauchen, gelingt Boyne sehr gut. Kein merkwürdiger Zufall, keine gedrechselte Konstruktion, sondern Zusammentreffen wie im realen Leben. Dass Cyril in besonderen Situationen seines Lebens immer wieder auf seine Mutter trifft, weiß der Leser, er selbst oder die Mutter ahnen es nicht. Ein kleiner Kniff, der aber für eine unterschwellige Spannung sorgt und darauf warten lässt: Wann endlich …?

Boyne kann hervorragend schreiben, er unterhält, das Kopfkino läuft ab der ersten Zeile, doch es bleibt die Frage, ob er in diesen Roman nicht zu viele Probleme angerissen und auch seine Figuren mit Schicksalsschlägen überfrachtet hat.

Was klar zum Ausdruck kommt: Dass sich das gesellschaftliche Bild der Homosexualität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur in Irland gewandelt hat, dass aber die alten Vorurteile immer noch durch die Lande geistern.

Was Cyril angeht, erweist Boyne sich beim Schluss wieder als Meister des halboffenen Endes: Man weiß, was mit dem Protagonisten passieren wird, es braucht also nicht explizit geschildert zu werden. Alles andere um ihn herum endet beinah unerträglich happy.