Rezension

Die volle Ladung Sauerstoff

Der Junge muss an die frische Luft
von Hape Kerkeling

Bewertet mit 5 Sternen

Eine Persönlichkeit, das ist nicht gleich eine Person. Das sind alle Personen und alle Orte und jede Luft, die man im Leben jemals aufgesogen hat. Hape Kerkeling würden viele Leute als die Persönlichkeit schlechthin bezeichnet. In seinem neuen Buch erklärt der Entertainer, aus welchem Holz er wirklich geschnitzt ist.

Nach dem riesigen und berechtigten Erfolg des - man könnte es folgendermaßen nennen - Pilgertagebuches Ich bin dann mal weg, welches nicht zuletzt auch in mir den dringenden Wunsch nach Jakobsmuscheln weckte, handelt es sich bei dem neuesten Werk um ein noch persönlicheres, um ein noch bewegenderes.
Die Reise nach Santiago de Compostela hinterließ Sympathie und Wohlwollen von allen Seiten, die vorliegende Schilderung intimster Anekdoten und Tragödien hingegen verdient zudem größten Respekt. Ich will im Grunde nicht allzu sehr in Bildern sprechen, aber man kann in der Tat behaupten: Dermaßen nackt hat man Hape Kerkeling noch nie gesehen.

Die literarische Qualität halte ich für vollkommen angemessen. Kerkeling ist kein hauptberuflicher Autor, er ist vor allem Entertainer. Nach der Lektüre will ich sogar behaupten, dass er schlicht und ergreifend auf menschlicher, weniger auf literarischer Mission ist. Dazu kann eine eigene Erfahrung kaum literarisch sein, denn literarisch, das heißt manchmal unecht.
Somit handelt es sich hier nicht um nobelpreisverdächtige Kunst im Sinne der Wissenschaft. Es finden sich tatsächlich einige durchaus poetisch anmutende Stellen, die mir glockenhell, aber keineswegs tinnitusartig in den Ohren klangen. Dann aber wiederholen sich Phrasen hier und da, manch ein Dialog hätte noch weiter ausgebaut werden können (aber auch, weil ein Kind, dem Schokolade angeboten wird, nicht mit einem einzigen Riegel zufrieden ist). Insgesamt eine ausgeglichene Leistung. 
Geschrieben wird einfach, wie der Schreiber ist, und das macht das Geschriebene umso sympathischer.

Außerdem würde einer Geschichte, die der Untermalung willen ausgeschmückt wurde, Maßgebliches fehlen: Authentizität; jene, die ich besonders an dem Jungen, der an die frische Luft muss, bewundere. Sie zeichnet auch jede einzelne Figur aus, die einem hier mehr oder weniger über den Weg laufen. Häufig meint man, bekannte Gesichter aus seiner Familie in ihnen zu erkennen; spezielle Rollen in der Verwandtschaft gibt es, die werden stets von derselben Art Familienmitglied besetzt, obwohl es niemandem zu gleichen scheint.
Als herausragende Eigenschaft veranschaulicht eine unverblümte Ehrlichkeit dem Leser, dass der Publikumsliebling zwar für ebendieses (das Publikum) geschrieben hat; sei es, um ihm Mut zu machen, Verständnis zu erzeugen, auch zur Unterstützung Kranker und als Hommage an die Menschen, die ihn geprägt haben - jedoch vermute ich auch, dass er das Buch zu keinem geringen Anteil ebenso für sich selbst geschrieben hat. Ein von-der-Seele-Schreiben, ein sich-selbst-Verdeutlichen. Gewissermaßen ein sein-Leben-vor-sich-Ausbreiten.
 
Lustig sein ist eine seelische Bereicherung (und das sage ich, obwohl ich gar nicht lustig bin). Auf bemerkenswerte Art bekräftigt der Autor seine innige Liebe zum menschlichen Humor, die beim Lesen regelrecht Lebenslust verbreitet und glücklich macht. 
Nicht zu missachten ist auch folgende Botschaft an den Leser, etwas, das zumindest ich von Hape gelernt habe: dass ein Mensch, der zur öffentlichen Person gemacht wird, noch immer ein Mensch ist. Mit einer einzigartigen Geschichte, die nur eben diesem Menschen gehört. Jedermanns Geschichte kann erzählt werden und bleibt doch Eigentum dessen, der sie erlebt hat.

Direkt zu Anfang lachte ich, bis meine Sitznachbarn in der Bahn am liebsten den Platz gewechselt hätten. Nicht lang darauf weinte ich, als klebten frische Zwiebelscheiben zwischen den Buchseiten.
 Das ist es doch, worum es beim Lesen geht. Geschüttelt werden, und gerührt. Das schafft nicht einmal jeder fiktive Roman, gar nicht erst von Sachbüchern anzufangen, von arroganten Autobiographien selbsternannter Gandalfs. Mit diesem Buch beschenkt Hape Kerkeling sich selbst und die Welt.
 

Kommentare

Arbutus kommentierte am 22. Februar 2015 um 01:02

Wow. Was für eine schöne Rezension. Gut geschrieben. Und noch besser gefühlt.

Lauritzel kommentierte am 18. Mai 2016 um 17:06

Ich danke dir vielmals für das Kompliment! :)