Rezension

Ein brillanter Roman mit Esprit, Humor und einer Prise Tragik

Töte mich - Amélie Nothomb

Töte mich
von Amélie Nothomb

Fast wie im Märchen

Es ist kaum zu glauben, aber der neue Roman von Amélie Nothomb Töte mich ist tatsächlich erst das zweite Buch, das ich von der renommierten belgischen Schriftstellerin gelesen habe. Es wird jedoch ganz bestimmt nicht das letzte sein, denn ihre Geschichten sind wirklich außergewöhnlich, und ihr Schreibstil hat eine ganz besondere Sogwirkung. Hinzu kommen ihr feiner Sinn für Ironie, eine wohl dosierte Portion Humor, aber auch ein spezielles Penchant für Tragik. Ihre ausgefeilten Dialoge, die für mich das Herzstück ihrer Werke darstellen, sind schlicht brillant. Dies alles trifft auch wieder auf ihre neueste Story zu, unter deren Titel ich mir etwas völlig anderes vorgestellt hatte. Ich erwartete ein Psychodrama, war aber bei Lektüre mehr als erstaunt, als ich eine fast märchenhaft anmutende Erzählung vorfand. Die Betonung liegt jedoch hier auf fast, denn Nothomb versteht es meisterhaft, ihre Leser in jeder Hinsicht zu überraschen.

Der glücklichste Mensch auf Erden?

Graf Henri Neville könnte eigentlich der glücklichste Mensch auf Erden sein. Er führt eine wunderbare Ehe mit seiner schönen Frau Alexandra und hat ebenso schöne und talentierte Kinder, Oreste und Électre, die er – zu mancherlei Verwunderung – nach den Protagonisten klassischer griechischer Dramen benannt hat. Er lebt mit seiner Familie in einem Schloss in den Ardennen und zählt zu den besten Gastgebern seines Standes. Jedes seiner Feste ist ein Ereignis, eine Einladung von ihm gleicht einem Ritterschlag für die Haute Volée. Doch sein Lebensmärchen bröckelt: Sein Schloss, das er in der Familientradition von seinem Vater erbte, ist baufällig und steht zum Verkauf, da Nevilles zusammengeschrumpftes Vermögen für eine Komplettrenovierung nicht ausreicht. Ihm ist bewusst, dass er nie ein abgezockter Geschäftsmann werden wird und sich somit auch seine stetigen Geldsorgen nicht in Luft auflösen, aber er kann nun mal nicht über seinen Schatten springen. Dies alles könnte Neville noch verkraften, wäre da nicht sein drittes Kind, Tochter Sérieuse (schon ihr Name fällt aus dem Tragödienrahmen), die ihm große Sorgen bereitet. Sie kapselt sich von der Familie ab, redet kaum und hängt dunklen Gedanken nach.

Eine düstere Prophezeiung

Als Sérieuse eines Tages von zuhause ausreißt und von der Wahrsagerin Madame Portenduère halb erfroren im Wald aufgefunden wird, ist Neville alarmiert. Zu seinem Verdruss liest ihm die resolute Seherin auch noch die Leviten: Seine Tochter brauche mehr Zuwendung, er müsse des Öfteren auch mal das Gespräch mit ihr suchen. Der Graf schmettert die Vorwürfe verärgert ab, denn für ihn ist klar, dass seine Tochter in der vollen Blüte der Pubertät steht und ein solches Verhalten nicht unüblich ist. Doch ein schlechtes Gewissen hat er trotzdem, was ihn nur noch wütender macht. Aber es kommt noch schlimmer: Die Wahrsagerin prophezeit ihm, dass er auf seinem opulenten Gartenfest, das demnächst wieder anstehende Highlight des Adelsstandes, einen Gast töten wird.

Das Dilemma des Grafen

Obwohl Neville eigentlich nicht abergläubisch ist, kann er an nichts anderes mehr denken. Er, der keiner Fliege etwas zuleide tun kann, weiß nicht mehr ein noch aus, doch schließlich überwiegt seine pragmatische Seite: Wenn es schon so kommen muss, wie es prophezeit wurde, dann will er wenigstens den Richtigen „aus dem Verkehr ziehen“. Doch wer könnte das sein? Er sucht händeringend nach einer Person, dessen Tod für alle ein Segen wäre, bis ihm seine Tochter Sérieuse mit einem abstrusen Vorschlag zuvorkommt: Er soll sie töten, weil sie keinen Sinn mehr im Leben sieht und unfähig ist, etwas zu fühlen. Der Graf traut seinen Ohren nicht und tut diese in seinen Augen völlig absurde Offerte seiner Tochter als pubertäre Dramatik ab. Während seine Tochter nicht locker lässt, läuft ihm die Zeit davon, denn das Gartenfest, zu dem die Crème de la Crème eingeladen ist, rückt immer näher. Verzweifelt versucht Neville, einen Ausweg aus seinem tragischen Dilemma zu finden, das unweigerlich jemanden das Leben kosten wird…

Ein brillanter Roman mit Esprit, Humor und einer Prise Tragik

Mit Töte mich ist Amélie Nothomb ein unterhaltsamer, geistreicher Roman gelungen, der vor allem durch seine spitzfindigen Dialoge begeistert. Wohl dosierte Ironie gepaart mit teilweise bissigem Humor stehen in keinem Gegensatz zur tragischen Komponente, die die Autorin ihrer einzigartigen Geschichte hinzufügt. Schnell lässt Nothomb ihre Leser die anheimelnde Märchenfassade als zu schön um wahr zu sein entlarven. Gleiches gilt für ihre Figuren: Der gute Graf Neville hat zwar unser volles Mitgefühl, wirkt aber ebenso wie seine attraktive Frau und seine beiden Bilderbuchkinder seltsam blutleer. Einzig Serieuse, die stets ein wenig bizarr daherkommt, erweckt Interesse. Schließlich ist sie es ja auch, die ihren Vater durch ihr rebellisches Verhalten in eine ausweglose, unweigerlich tragische Situation bugsiert, ihn aber gleichzeitig auch aus seiner Adelslethargie reißt. Und der Ausweg, den ihr Vater schließlich aus diesem Labyrinth findet, überrascht niemanden mehr als Sérieuse…

Mein Fazit: Ein – leider viel zu kurzes – Romanjuwel voller Esprit und ein Lesegenuss sondergleichen. Unbedingt lesenswert!