Rezension

Ein Buch, das zum Nachdenken anregt

Der Himmel kann warten
von Sofie Cramer

Bewertet mit 5 Sternen

Lilly ist schwer herzkrank und wird von ihren Eltern mit Samthandschuhen angefasst, um sie ja nicht aufzuregen. Dabei gerät ihre jüngere Schwester Laura ein wenig ins Ausseits, was sie Lilly auch schwer übel nimmt.
Lilly spielt für ihr Leben gern Cello und hat sich heimlich für ein Vorspielen in Wien beworben, wohl wissend, dass sie, sollte sie eingeladen werden, dort eh nie anreisen würde.
Ihre Freundin Natascha aus Kindertagen hat einen Freund und wird demnächst ein Studium in Freiburg beginnen, was sie sich aber nicht traut, Lilly zu erzählen. Als diese es jedoch erfährt, ist sie ziemlich erschüttert, es wird niemand mehr da sein, der ihr zuhört oder für sie da ist, von ihren Eltern mal abgesehen.
Beim Surfen im Internet gelangt sie auf eine Seite, die sich "last exit" nennt. Auf ihr tummeln sich Menschen, die suizidgefährdet sind oder anderweitig vom Leben gebeutelt wurden. Sie findet dort einen User, der sich "alleszerstörer94" nennt und schreibt ihm eine kurze Nachricht.
Hinter diesem Nick findet man Len, Tischlerlehrling, der es zu Hause nicht aushält und deshalb in einem Zimmerchen bei seinem Chef wohnt. Ihn treibt eine Todessehnsucht, die ihn seit 2 Jahren nicht verlässt. Vor 2 Jahren kam sein jüngerer Bruder ums Leben, wofür er sich die Schuld gibt. Er denkt ernsthaft an Selbstmord, weshalb er sich auch auf der Seite angemeldet hat.

Lilly und Len kommen ins "Gespräch", sie schreiben sich kurze Nachrichten, später dann SMS, um sofort reagieren zu können. Sie verstehen sich sehr gut, verbindet doch beide die Liebe zur Musik...

Die Geschichte packt den Leser von Beginn an.
Zwei Protagonisten, die unterschiedlicher nicht sein können.
Lilly, schwerkrank, will leben und noch ganz viel erleben, wird aber durch ihr krankes Herz an allem gehindert, zumal der Gesundheitszustand bedenklich ins schwanken kommt.
Len, suizidgefährdet, sieht keinen Sinn mehr in seinem Leben, seit sein kleiner Bruder vor 2 Jahren ums Leben kam. Mit seinen Eltern kommt er nicht mehr klar, da er davon überzeugt ist, dass diese denken, der falsche Bruder wäre gestorben. Er kann und will mit der Last nicht mehr leben.
Diese beiden treffen sich in diesem "Forum für Gestörte", wie Len es für sich nennt. Sie tasten sich aneinander an, erzählen sich ihre Ängste und Nöte, wobei Lilly damit zurückhält, wie schwer krank sie ist.
Sie beginnen eine rege Korrespondenz, die sie von ihren Problemen ein wenig ablenkt, aber sie trotz allem nicht verdrängt.

Lilly hat Angst, große Angst, sie hat die Zeit nicht mehr, auf ein Spenderherz zu warten, sie braucht dringend ein Kunstherz. Sie merkt selbst, wie schwer ihr alles inzwischen fällt und wie oft sie eine Pause braucht, aber ihr großes Ziel verliert sie nicht aus den Augen. Ein Studium am Konversatorium in Wien, sie würde alles dafür geben, um dort studieren zu können. Aber sie weiß, dass es bei dem Traum bleiben wird. Ihre Eltern würden sie nie dorthin lassen. 
Doch dann kommt das lang ersehnte Schreiben aus Wien, die Einladung zum Vorspielen. Sie lässt Len an ihrem Kummer teilhaben, der prompt einen Entschluss fasst.

Die beiden Protagonisten muss man einfach mögen, man kann gar nicht anders.
Lilly, anfangs ängstlich, wagt unglaublich viel, um wenigstens einen Teil ihres großen Traums wahr werden zu lassen. Dabei hilft ihr Len, dem durch Lilly bewusst wird, wie kostbar und wertvoll das Leben ist, das er beenden wollte. Er erfüllt Lilly einen Traum, er wächst über sich selbst hinaus. Er trifft Entscheidungen und übernimmt Verantwortung, die fast zu viel ist für ihn. Mehr als einmal kommen ihm Bedenken, ob es richtig ist, was er macht, aber er will Lilly nicht enttäuschen.

Musik verbindet Menschen miteinander, so auch in diesem Buch. Aus zwei völlig Fremden, die sich aus den unterschiedlichsten Beweggründen in einem ungewöhnlichen Portal im Internet angemeldet haben, entsteht eine Freundschaft, die ungewöhnliches vor sich hat.

Der Schreibstil der Autorin ist ausgesprochen angenehm zu lesen. Die Kapitel sind unterteilt in die Übertitel Len und Lilly, so dass der Leser das Geschehen jeweils aus den beiden Perspektiven betrachten kann. Man nimmt teil an den Ängsten und Sorgen der Protagonisten und auch an ihren Gedanken.
Man ängstigt sich gemeinsam mit Lilly um ihre Gesundheit und fühlt mit Len wegen seiner Vergangenheit. Lange bleibt im Ungewissen, wie sein kleiner Bruder ums Leben kam, so dass der Leser länger im Unklaren gelassen wird, ob er Schuld an dessen Tod ist oder nicht.

Für mich ist dies das erste Buch der Autorin und ich denke, nicht das letzte. Ich war emotionsmäßig ziemlich angespannt beim Lesen, denn das Thema Tod lauerte immer im Hinterkopf.
Ein großer Traum und ein großes Wagnis - ein Buch, das man lesen sollte.
Ich empfehle es sehr gern weiter.