Rezension

Ein Buch zum Nachdenken

Und keiner wird dich kennen - Katja Brandis

Und keiner wird dich kennen
von Katja Brandis

Mein endgültiges Urteil: „Und keiner wird dich kennen“ regt zum Nachdenken an, spielt mit einigen Fragen, die oftmals ihre Schatten vorauswerfen und mutiert somit zum wahren Pageturner, den ich kaum aus der Hand legen konnte. Trotz der kleinen Namensschwächen und damit einhergehenden Verwirrungen, bin ich mehr als begeistert von diesem Werk und kann ihn denjenigen, die endlich mal einen realistischen Jugendroman mit tiefer gehendem Thema, mehrdimensionalen Figuren und dem ultimativen Gänsehautfaktor lesen wollen, dringend ans Herz legen.

Du musst dein Leben aufgeben, sonst nimmt er es dir

 

Der Inhalt:

Stell dir vor, das Leben von dir und deiner Familie wird bedroht. Stell dir vor, du kannst mit endlosem Terror und nicht aufhörender Belästigung rechnen. Stell dir vor, es gibt nur einen Weg, um diesem Szenario zu entkommen; der bedeutet, deine Identität aufzugeben und sich von allem zu lösen, was dir lieb und wichtig ist. Keine Hobbies, die öffentliches Aufsehen erregen könnten, kein Facebook, keine Fotos und jede Menge Geheimnisse und Lügen, in die du dich verstricken musst. Stell dir vor, du darfst deine große Liebe nie wieder sehen und musst einen Neustart wagen, indem du spielen musst, jemand zu sein, der du nicht bist. Stell dir vor, du hast die Wahl, aber hast du sie wirklich? Denn am Ende bedeutet es nur eines – keiner wird dich kennen!

Tiefe Emotionen zwischen spannenden Puzzleteilchen

Der Thriller „Und keiner wird dich kennen“ hat mich vom ersten Satz an gebannt, da Katja Brandis neben ihrem packenden Schreibstil keine Zeit verliert und direkt die schwierige und für Spannung sorgende Thematik des Stalkings und der häuslichen Gewalt einleitet.

Die verschiedenen Erzählperspektiven der Protagonistin Maja, ihrem Freund Lorenzo und dem Stalker Robert Barsch wechseln zwischen Gegenwart und Vergangenheit, so dass sich die Puzzleteilchen erst nach und nach zusammensetzen, was das Gesamtbild am Ende umso intensiver zeichnet und für die tiefen Emotionen verantwortlich ist. Denn die LeserInnen dürften in regelrechte Gefühlsdilemmata verwickelt werden: Sowohl die Sehnsucht und Leidenschaft des Stalkers sind nachvollziehbar, was ihn menschlicher macht und Mitleid zur Folge hat als auch seine kranken Fantasien, die Sorge und Ekel erregen. Dazwischen steht die Angst, Verzweiflung und Wut der Opfer. Gelungen ist hierbei auch die Zusammensetzung der Familie, die aus jugendlicher Rebellion, vertreten durch Maja, dem kleinen, schutzbedürftigen Bruder Elias und einer emanzipiert und bodenständig wirkenden Mutter, namens Lila besteht.

Zwischen Sein und Schein, gefangen in einer unwirklichen Identität

„Und keiner wird dich kennen“ ist ein Jugendbuch, das eindrucksvoll die verschiedensten Abgründe zwischen Verzweiflung und Sehnsucht beleuchtet und dabei tiefe Einblicke in die Psyche der Täter und Opfer gibt. Außerdem kontrastiert es ein Leben zwischen Sein und Schein und die damit verbundene Problematik: wie lange ist es einem möglich, die Fassade glaubwürdig aufrechtzuerhalten? Wie hoch darf der Preis für eine vermeintliche Freiheit sein?

Auch das grelle und auffällige Cover spiegelt den spiralenartigen Teufelskreislauf des Inhalts und der Gefühlskrisen wider, die sich enger und enger um die Figuren und auch einen selbst ziehen, wodurch sich Handlung und Aussehen perfekt ergänzen.

Ein Namenschaos, das kleine Ungereimtheiten erzeugt

Leider hat Katja Brandis ihre klare Linie nicht immer zu hundert Prozent beibehalten können. Mich hat es verwirrt, dass die Figuren, die in ihrer neuen Identität erhaltenen Namen nur unregelmäßig verwendeten, weiterhin in ihren alten Namen „dachten“ und sich gegenseitig immer wieder mit den alten Namen ansprachen.

Dadurch existierten beide Namen bzw. Identitäten parallel und ich war mir nie sicher, ob dies nun von Katja Brandis beabsichtigt sei oder nicht. Normalerweise wäre mir das gar nicht so eklatant aufgefallen, doch leider unterlief Katja Brandis ein grober Schnitzer auf Seite 171. Maja wird von ihrer neuen Freundin statt mit Alissa, plötzlich wieder mit ihrem alten Namen Maja angesprochen, obwohl besagte Freundin ‘Maja’ gar nicht kennen konnte. Da ich aber annahm, solch ein Fehler wäre im Lektoratsprozess doch mal irgendwem aufgefallen, befand ich mich von diesem Moment an auf der falschen Fährte, die dahin führte, dass Majas Freundin insgeheim doch Bescheid wüsste und  so erwartete ich nun eine kleine bis mittlere Nebenstory.

Andererseits unterstreicht das kleine Namenschaos auf seine eigene Weise die vielen Probleme, die mit einem Identitätswechsel zusammenhängen. Maja und ihre Familie hängt verständlicherweise immer noch an ihrem alten Leben und hat Schwierigkeiten, sich zu lösen, was durch die durcheinandergewürfelten Namen gelegentlich zum Ausdruck kommt.

Wie ein Rausch, messerscharf und gespickt mit widersprüchlichen Gefühlen

Nichtsdestotrotz besaß die Protagonistin Maja eine eigene Stimme, die mich zielsicher durch das Wechselbad der Gefühle führte. So erschien mir das Lesen dieses Romans wie ein Rausch, da die Autorin glaubwürdige Widersprüche schuf, die für immer neue Kicks sorgten und mich dieses Jugendbuch noch lange im Gedächtnis behalten lassen werden.

Durch eine Bekannte habe ich selbst Erfahrungen mit dem Thema Stalking, so dass ich ziemlich gut beurteilen kann, wie messerscharf und eiskalt authentisch Katja Brandis die gefährliche, zugleich prickelnde Atmosphäre dieses Szenarios kreiert hat. Stalker können einem selbstredend das ganze Leben ruinieren, denn immer schwelt man zwischen dieser rastlosen Hoffnung, er möge unvorsichtig werden – was zugleich Lebensgefahr für einen selbst bedeuten könnte – damit die Polizei endlich etwas unternehmen könne und gleichzeitig arbeitet die hilflose Angst, dass es nie aufhört. Diese zersplitternden Gefühle habe ich in Katja Brandis Thriller durch die Figuren wieder entdeckt.

Mein endgültiges Urteil:

„Und keiner wird dich kennen“ regt zum Nachdenken an, spielt mit einigen Fragen, die oftmals ihre Schatten vorauswerfen und mutiert somit zum wahren Pageturner, den ich kaum aus der Hand legen konnte. Trotz der kleinen Namensschwächen und damit einhergehenden Verwirrungen, bin ich mehr als begeistert von diesem Werk und kann ihn denjenigen, die endlich mal einen realistischen Jugendroman mit tiefer gehendem Thema, mehrdimensionalen Figuren und dem ultimativen Gänsehautfaktor lesen wollen, dringend ans Herz legen.