Rezension

Ein großartiges Romandébut!

Zeit der Schwalben - Nikola Scott

Zeit der Schwalben
von Nikola Scott

Bewertet mit 5 Sternen

"Zeit der Schwalben" von Nikola Scott (Originaltitel im Englischen "My mother's shadow') erschien (HC, gebunden) 2017 in der Rowohlt-Verlagsgruppe bei Wunderlich. 
Der sehr berührende und gefühlvoll geschriebene (sowie von Nicole Seifert ins Deutsche übersetzte) Roman beginnt mit einem Rückblick:

Sussex, England, 1958:

"Es ist ein goldener Sommer im England der späten 50er Jahre: Die sechzehnjährige Elizabeth ist begeistert von den jungen Leuten, die sie auf dem Anwesen der Freunde ihrer Eltern in Sussex kennenlernt. Sie erlebt unbeschwerte Tage mit Ausflügen, Picknicks und Partys. Und sie verliebt sich prompt....

London, 40 Jahre später:

Nach dem Unfalltod ihrer Mutter erhält Adele Harington einen mysteriösen Anruf: Ein Mann spricht von "neuen Spuren" und nennt immer wieder ein Datum. Und dann steht plötzlich eine Fremde vor der Tür und behauptet, Teil der Familie zu sein...
(Quelle: Buchrückentext)

Adele, genannt Addie, hat es zeitlebens schwer, eine innige Beziehung zu ihrer Mutter aufzubauen. Den Parolen der Mutter wie "die Schultern straffen und nach den Sternen greifen" kann sie nicht so gut Folge leisten wie ihre Geschwister: Während Venetia, ihre jüngere Schwester Architektin und ihr Bruder Jas Handchirurg wird, widmet sie sich anderen Aufgaben und macht aus ihrer Leidenschaft ihre Berufung: Bäckerin und Konditorin. Ihr alter Jugendfreund Andrew, ein weiterer Protagonist dieses wundervollen Romans, bestärkt sie jedoch und möchte als gelernter Koch am liebsten mit Addie zusammen das "Grand Bleu" eröffnen, in dem beide ihre berufliche (und gerne auch private) Erfüllung finden könnten, nach Auffassung Andrews jedenfalls...

Am Todestag der Mutter (Elizabeth Harington) versammelt sich die Familie und es ist spürbar, welche Lücke dieser viel zu frühe Tod in die Familie riss. Addies Beziehung zu Venetia ist nicht problemlos und Addie, die sehr kompromissbereit und etwas konfliktvermeidend ist (im Gegensatz zu Venetia) erhält einen merkwürdigen Anruf, der sie fortan nicht loslässt: Ein Mann hat neue Spuren gefunden, die in die Abteilung 'vermisste Personen' fällt und wiederholt ein Datum: Das Geburtsdatum von Addie, der 14. Februar 1960.....

Stück für Stück versucht Addie nun (voller Entschlossenheit, wie einst die Mutter), dieses Rätsel aufzulösen, zumal eine Frau vor der Tür auftaucht, die behauptet, ebenfalls am 14. Februar geboren worden zu sein - und dass Elizabeth ihre Mutter sei....

Um nicht die Spannung, die in diesem Roman sehr tiefgründig liegt, vorwegzunehmen, beschränke ich mich darauf, auf das Familiengeheimnis nicht in aller Form einzugehen, jedoch den gefühlvollen, prägnanten und sehr guten Schreibstil der Autorin sehr hervorzuheben: Seit dem Entschluss Addies, ihre Mutter völlig neu zu entdecken und das Unerklärliche (für den Leser Erschütternde) zu entschlüsseln, gelingt es Nikola Scott ganz hervorragend, die Charaktere - in vorderster Linie Addie, Venetia, den Vater George und auch besonders Elizabeth, die durch ihre Tagebucheinträge im Rückblick immer präsenter und nachvollziehbarer wird - wie auch Andrew, der sehr hartnäckig (und liebevoll) an der Seite Addies steht, herauszuarbeiten und sehr facettenhaft darzustellen. Man hat recht schnell große Sympathie für Addie, wogegen sich die für Venetia sehr im Rahmen hält; dennoch ist im Verlauf des Romans eine Annäherung festzustellen. Es gibt eine Person, die eine wirklich niederträchtige Rolle spielt und dessen Motiv lediglich das Ansehen "und der gute Ruf" seiner Familie ist; der in der Doppelmoral dieser Epoche denkt und auch agiert, in der nichts schlimmer ist als die Tatsache, als junge Frau (unverheiratet) ein Kind zu bekommen. 

Man erfährt im Verlauf dieser sehr tragischen Familiengeschichte von Einrichtungen, die es seinerzeit (und noch bis in die 80er Jahre hinein!) in England gab (und natürlich nicht nur dort), in denen jungen Mädchen und Frauen ein Schuldgefühl eingeimpft wurde, sie gedemütigt und versklavt wurden ob ihrer "Schande", ein Baby zu bekommen. Hier geht die Tragik noch darüber hinaus, da es eine gefühllose, kalte Atmosphäre zu Hause gibt, Trauer das Lebensgefühl, die große Lebensfreude  Jugendlicher in den 50ern sozusagen grundiert, da Elizabeth kurz zuvor ihre Mutter durch Krankheit verlor.... Hier gelingt es der Autorin sehr gut, die "Achterbahn der Gefühle", aber auch die Stärke von Elizabeth, nach einem Ausweg zu suchen und nicht klein beizugeben, darzustellen. In Form von Tagebüchern, die Addie findet, kommt sie ihrer Mutter immer näher - und das Rätsel um die fremde Frau löst sich auf sehr positive Weise....

Fazit:

Ein emotionaler, sehr ergreifender und berührender Roman, in der die Autorin der dunkleren Seite der 50er Jahre nachspürt - der Doppelmoral und gesellschaftliche Ausgrenzung alleinstehender junger Mütter, die sich noch bis in die 80er Jahre hinein halten sollten, so in ihrem Nachwort. Einfühlsam und bewegend wird durch die Protagonistinnen Elizabeth, Addie und Phoebe nachgezeichnet, welch verheerendes Erbe erzwungene Trennungen für die Betroffenen und deren weiteres Leben darstellt. Ein großes Dankeschön an die Autorin, den Wunderlich-Verlag und eine absolute Leseempfehlung bei 5 * am literarischen Firmament!