Rezension

Ein historischer Roman in Perfektion

Die Schwester des Tänzers - Eva Stachniak

Die Schwester des Tänzers
von Eva Stachniak

Bewertet mit 5 Sternen

Wenig Ahnung hatte ich von klassischem Ballett. Ich wusste auch nicht viel über die Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland, schon gar nicht über das Leben der Künstler dort zu dieser Zeit. Nach Lektüre des Romans glaube ich, ein klein wenig mehr zu verstehen von Ballett und freiem Tanz, aber auch vom ballettverrückten Russland in seinem politischen Hin- und Hergeworfen-Sein Anfang des 20. Jahrhunderts. Das Buch regte mich zu weiteren Nachforschungen an, insbesondere die vorhandenen Filmsequenzen des Nijinski-Balletts, die filmischen Dokumente von Waslaw und Bronislawa Nijinky, zeigten mir, wie perfekt es Eva Stachniak gelungen ist, das Ringen um künstlerischen Ausdruck im Roman erfahrbar zu machen.

 

Für die Wiedergabe des Buchinhalts benötigt man eigentlich mehrere Seiten, ich versuche es mit einem einzigen Satz: Während der Überfahrt nach Amerika im Jahr 1939 hält die international renommierte Ballerina und Choreographin Bronislawa Nijinsky Rückschau auf ihr bisheriges sehr bewegtes Leben.

 

Wir erleben die Kindheit und Jugend der Bronislawa Nijinsky im Schoß ihrer ballettverrückten Familie,  ihren mühevollen künstlerischen Werdegang, lange im Schatten ihres berühmten und exzentrischen Bruders Waslaw stehend. Wir erfahren vom  hohen künstlerischen Anspruch, vom Ringen um die „richtigen“ Bewegungen, vom  Wandel vom klassisch strengen Ballett hin zum freien Ausdruckstanz. Wir erleben die politisch wechselvollen Zeiten von 1900 bis 1939, nicht nur in Russland, und die teils verheerenden Auswirkungen auf das künstlerische Schaffen. Wir reisen von Petersburg ausgehend durch die Welt, wir begegnen großen Künstlern der Zeit und erleben hautnah das verzweifelte Kämpfen um ein gelingendes Leben trotz vieler schwerer Schicksalsschläge. Bronislawa Nijinsky lernen wir kennen als schicksalsergeben, liebevoll und bescheiden einerseits, als begnadete Künstlerin mit großen Visionen, stark und eigenwillig andererseits.

 

Eva Stachniak hat als Grundlage für diesen Roman die Early Memories der Tänzerin und eine Fülle an biographischem Material, archiviert in der Kongressbibliothek, Washington, herangezogen. Entstanden ist ein Roman, wie er intensiver, farbiger und bewegender gar nicht sein könnte. Zwar bleibt die Ich-Erzählerin Bronislawa als Mensch nicht wirklich greifbar, nur selten schimmern ihre eigenen Gefühle durch. Aber genau dadurch erleben wir quasi durch ihre Augen unverfälscht ihre Sicht auf die Welt, ihr reiches, gefeiertes, aber auch tragisches, entbehrungsreiches Leben in einer höchst wechselvollen Zeitgeschichte, hinreißend erzählt. Ein historischer Roman in einer großartigen Mischung aus historischer Wahrheit und schriftstellerischer Fantasie.