Rezension

Ein Hoch auf die Liebe!

Die Farben im Spiegel - Deniz Selek

Die Farben im Spiegel
von Deniz Selek

Bewertet mit 5 Sternen

Die Zwänge, in denen ich mich gefangen sah

„Es gab ein Du und ein Ich, es gab manchmal ein Gefühl von Nähe, doch meist ein Gefühl von Ferne und Abschied. Wenn es denn ein Uns gab, war es zersplittert, aufgespalten in unzählige Atome, die umeinanderwirbelten und nur für kurze Augenblicke zu einer erkennbaren Form zusammenfanden.

 

Inhalt

 

Koray und Alev sind fast gleichaltrig und wachsen nebeneinander in Istanbul auf, ihre Eltern sind gute Freunde und beide haben eine deutsche Mutter und einen türkischen Vater. Diese Gemeinsamkeiten verbinden sie dauerhaft und lassen zunächst eine Freundschaft entstehen, die sich im Laufe der Zeit zu einer Liebesbeziehung entwickelt. Auch wenn es immer nur kurze Momente sind, die sie gemeinsam verbringen, so zeigt sich doch schon früh, dass sie einander die Welt bedeuten und der eine immer schon auf den anderen gewartet hat. Und obwohl sie später nach Deutschland ziehen und dort ein eigenständiges Leben mit anderen Partnern, eigenen Kindern und fern voneinander beginnen, bleibt diese unstillbare Sehnsucht erhalten, die zwischendurch wieder aufflammt, nur um dann erneut zu verebben. Keiner der beiden erzwingt mehr Nähe, keiner nimmt es sich heraus, das Leben des anderen zu bestimmen, auch wenn die Zeit ungenutzt verstreicht. Und während Koray darauf vertraut, dass sie das Schicksal irgendwann zueinander führen wird, kämpft Alev gegen ihre inneren Dämonen und um ein Urvertrauen, an dem es ihr bislang fehlte …

 

Meinung

 

Dieser Roman aus der Feder von Deniz Selek ergreift umfassend und sehr elementar die Gefühlswelt des Lesers. Mit einer großen Portion Emotionalität und Gedankengängen, die jeder Liebende nachvollziehen kann, begegnen uns hier zwei Menschen, die ihr Leben fern voneinander gestalten, ohne jemals den anderen aus den Augen zu verlieren. Es ist nicht nur ein klassischer Liebesroman, der eine dramatische, unglückliche Beziehung beleuchtet, es ist ein Buch über die Kraft der Liebe, über den Lauf der Dinge, über Menschen und Orte, die Spuren hinterlassen und gleichermaßen eine Hommage an das Gefühl der Heimat, der Erinnerungen, der unauslöschlichen Bilder, die sich in jungen Jahren tief in das Gedächtnis der Menschen graben und selbst zwischen den alltäglichen Anforderungen nicht verloren gehen.

 

Die Autorin erzählt flüssig und einprägsam, gestaltet ansprechende Sätze und taucht sehr tief in die Gefühlswelt ihrer Protagonisten ein, so dass alle Handlungen nachvollziehbar und äußerst realistisch wirken. Beides Kennzeichen eines abgerundeten Romans, der nicht nur an der Oberfläche kratzt, sondern zeigt, wie vielschichtig und intensiv die Liebe sein kann, welche Ausprägungen aber auch Charaktereigenschaften die Menschen ausmachen und welche Grenzen bleiben, wenn man nicht bereit ist, sie eigenhändig zum Einsturz zu bringen.

 

 Wie ein Hilferuf nach mehr Zuversicht, nach Urvertrauen und echten Gefühlen hinter der aufgesetzten Maske wirkt die Argumentation einer jungen Frau, die lange nicht auf ihre Emotionen hören wollte und nun Schicht um Schicht gezwungen ist, ihr vermeintlich sicheres, erfülltes Leben umzukrempeln, um selbst zu einer anderen zu werden.

 

Besonderes Augenmerk wird hier also nicht nur dem Paar gewidmet, sondern auch dem Entwicklungspotential des Einzelnen innerhalb und außerhalb einer Beziehung. Und so tritt automatisch auch eine gewisse Melancholie ein, die den Leser durch verpasste Chancen, beiseitegelegte Entscheidungen und aufgeschobene Gespräche erfasst. Eine Traurigkeit, die eine Liebesbeziehung nicht unbedingt braucht, der sie aber auch nicht immer entkommen kann.

 

Fazit

 

Ich vergebe volle Punktzahl für diesen ausführlichen, einzigartigen Roman über eine besondere aber auch generalistisch veranlagte Liebesbeziehung, die zahlreiche Gemütsregungen einfängt, die Menschen charakterisiert und vielschichtige äußere Umstände aufwirft. Ein Roman über die große Liebe, die sich durchaus zurückziehen kann, die verborgen schlummert aber nicht endet, die zunächst nur an die Oberfläche dringt, wenn sie Gelegenheit dazu bekommt, sich aber gegen alle Widrigkeiten durchzusetzen vermag, wenn man bereit ist, ihr ein Türchen zu öffnen. Ich empfehle den Roman all jenen, die gerne gefühlvolle, wahrheitsgemäße Geschichten über das Leben, die Liebe und die Kraft zur Veränderung lesen.