Rezension

Ein Klassiker, ein Mythos

To Kill A Mockingbird - Harper Lee

To Kill A Mockingbird
von Harper Lee

Bewertet mit 5 Sternen

Was ist dran an einem Buch, an einer Geschichte, die, je mehr man recherchiert, desto untrennbarer verwoben scheint mit dem Leben und Wirken von Gregory Peck, einem der großen Schauspieler unserer Zeit?

Ich warne gleich vorweg – diese Rezension kann nicht objektiv werden. Gregory Peck und seine Rollen spielen in unserer Familie eine wichtige Rolle – auch literarisch. Doch damit stehen wir nicht alleine. Mary Badham, die in der Verfilmung von ‚To Kill a Mockingbird‘ Pecks Tochter Scout spielte, nannte ihn danach Zeit seines Lebens nur noch beim Namen ihres Filmvaters -  ‚Atticus‘. Und Brock Peters, der im Film den afroamerikanischen zu Unrecht Angeklagten spielte, den Atticus Finch gegen alle Sturheit und alle Hoffnung verteidigte, hielt schließlich die Grabesrede bei Pecks Beerdigung. Von allen Seiten wurde bestätigt, dass der große Schauspieler mit seiner Rolle in ‚To Kill a Mockingbird‘ eigentlich kaum schauspielerisch tätig werden müsste – hätte er hier doch quasi sich selbst gespielt. Wer also ist Atticus Finch? 

Er ist, aus heutiger Sicht, der Gegenentwurf zu den sogenannten ‚Helikoptereltern‘. Spät Vater, aber als solcher früh verwitwet, zieht er in den 30er Jahren in einer amerikanischen Kleinstadt im Süden der USA seine Kinder auf. Beruflich ist er als Anwalt oft lange im Büro oder bei Gericht und seine Kinder bewegen sich frei, wenn sie auch mit der Haushälterin oder den Nachbarinnen leidlich interessierte Anlaufstellen haben. Scout, ihr Bruder Jem und Dill, der regelmäßig in den Ferien zu Besuch in der Stadt ist, sind aufgeweckt und intelligent. Übermütig, wie Kinder sein müssen, reizt sie die Geschichte des auf der Straße lebenden Arthur Radley, der nie das Haus verlässt und den die Kinder daher nur ‚Boo‘ nennen. Seine Geschichte spielen sie nach, und ein Trip in dessen Garten wird zur großen Mutprobe. 

Atticus hat für seine Kinder immer ein offenes Ohr und ist stets ehrlich zu Ihnen. Politische Gegebenheiten erklärt er ihnen ebenso kindgerecht wie treffend und es ist daher kaum verwunderlich, dass der moralische Kompass der beiden Kinder extrem genau ist. Als ihr Vater die Verteidigung eines afroamerikanischen Feldarbeiters übernimmt, der beschuldigt wird, eine junge weiße Frau vergewaltigt zu haben, fängt für die Kinder ein Sommer an, den sie nie vergessen werden. 

Sowohl Film als auch Buch, wenn auch auf unterschiedliche Weisen, sind Lehrstücke. Die Darstellung des Atticus Finch im Film hat meine Freundin dazu bewegt, Jura zu studieren – heute ist sie Richterin. Doch wo der Film, durchaus berechtigt und gut, den Prozess in den Vordergrund stellt, sind es im Buch eher die Kinder, deren Heranwachsen über mehrere Jahre erzählt wird und für die dieser eine, besonders heiße Sommer nur einer von vielen Schritten auf ihrem Weg ist. Ihre Auseinandersetzungen mit Mitschülern und Lehrern, ihr Einstehen für ihren Vater, ihren unauffälligen, doch entscheidenden Einfluss auf den Prozess  und ihre letztlich dramatische Begegnung mit Boo werden von Anfang bis Ende aus der Sicht von Scout erzählt. Kindlich ehrlich und mit einem weitaus besseren Gespür für Richtig und Falsch als typischerweise Erwachsene, hat der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Roman von Harper Lee einen leichten, ironischen Unterton, der das Lesen eines solchen Klassikers zu einem Vergnügen macht, auch bei schwer verdaulichen Inhalten und Themen. So wird auch die Verzweiflung und das Grauen, die Harper Lees Beschreibungen der ganz normalen Umstände jener Tage hervorrufen, durch ein trauriges Lächeln etwas gedämpft. 

Wäre Atticus ein Maßstab unserer Menschlichkeit, wäre wohl wahr, was Scout sagt „Besides, nothin’s real scary except in books.“ Ich kann nur hoffen, dass dieser Klassiker, der ein Paradebeispiel eines solchen ist, immer und immer und immer wieder gelesen werden wird.