Rezension

Ein kreatives Feuerwerk, das Gehirnschmalz erfordert

The Bone Season - Die Träumerin - Samantha Shannon

The Bone Season - Die Träumerin
von Samantha Shannon

Bewertet mit 4.5 Sternen

Wir waren nicht nur ihre Sklaven, wir waren ihre Nahrungsquelle. Deshalb mussten wir für die Fehler der Menscheit bezahlen, und nicht die Amaurotiker. Wenn ich nur daran dachte, dass ich noch wenige Tage zuvor in London gewesen war und mein halbwegs normales Leben in Seven Dials gelebt hatte, ohne auch nur zu ahnen, dass diese Kolonie hier existierte... (S. 111/112)

Im Jahr 2059 ist unsere Welt eine andere. Seherisch begabte Menschen, die mit dem Äther und den darin lebenden Geistern Kontakt aufnehmen können, werden von Scion verfolgt und weggesperrt. Paige, die dieser Verfolgung durch den Schutz ihres Denkerfürsten entkommt, ist selbst unter den Sehern eine Besonderheit: ihr Bewusstsein kann ihren Körper verlassen und durch den Äther reisen. Doch als sie nach ihrem letzten Auftrag für ihren Denkerfürsten von fremden Mächten entführt wird, gerät sie gerade deshalb in höchste Gefahr. Denn die mysteriösen Rephaim - unsterbliche, mächtige Wesen - wollen Paiges Kräfte für sich haben, koste es, was es wolle... 

Schon vor dem Erscheinen wurde "The Bone Season" ganz schön gehypt, was mich persönlich immer erstmal etwas auf Abstand gehen lässt. Nun habe ich es jedoch endlich gelesen und mich selbst davon überzeugt, worum eigentlich der ganze Wirbel gemacht wird. Und ich kann euch sagen, dass ich die begeisterten Stimmen vollauf verstehe - aber auch die Kritiker. "The Bone Season" glänzt nämlich mit einer unheimlichen Fülle an Kreativität, ist dadurch aber auch kein Buch, von dem man sich einfach so berieseln lassen kann. Besonders am Anfang fordert es schon ganz schön Konzentration, durch das komplexe Universum durchzusteigen. Aber es lohnt sich, durchzuhalten, glaubt mir! Denn wenn man erst einmal vertrauter mit den diversen Begriffen und Namen ist, versinkt man richtig in der Geschichte.
Die Erzählerin der Geschichte ist Paige, eine neunzehnjährige Seherin, deren Geist sich von ihrem Körper lösen und durch die Traumwelten anderer Menschen streifen kann. Eine unschätzbare Gabe, weswegen sie zum erlesenen Kreis des Denkerfürsten Jaxon Hall gehört. Für ihn erledigt sie Spionageaufträge und genießt dafür seinen Schutz vor der Regierung, die alle Seher einsperren will. Doch nach ihrem letzten Auftrag wird Paige von Unbekannten entführt und in eine Welt hineinversetzt, die sogar noch brutaler und grausamer ist als Scion: die Strafkolonie Sheol I, in der sie den mysteriösen Rephaim entweder als Sklavin oder Soldatin dienen muss. Doch der geheimnisvolle Rephait Arcturus, dem Paige zugeteilt wird, scheint seine ganz eigenen Pläne mit ihr zu haben...
 Ja, Samantha Shannon konfrontiert uns hier wirklich mit jeder Menge merkwürdiger Namen und Begriffe - ich sag nur Hadopelagialzone! Da hat sich mein Hirn beim Lesen ganz schön verknotet :-) London heißt nun im Jahre 2059 Scion-London und die Regierung nennt sich Archonitat. Menschen sind entweder seherisch begabt wie Paige, oder sie sind einfach normale Menschen, sogenannte Amaurotiker. Um sich gegenseitig vor der Verfolgung durch die Regierung und deren Wächter zu schützen, sind die Seher meist in einem kriminellen Syndikat organisiert, welches von unterschiedlichen Denkerfürsten geleitet wird. Für einen solchen arbeitet Paige, die durch den Äther reisen und dort die Traumlandschaften anderer Leute sehen kann. Klar soweit? Ich gebe es zu, es dauert schon seine Zeit, bis man die ganzen Strukturen durchblickt hat, aber mit der Zeit wird es leichter. 
Mich hat die Geschichte mit ihrer großartigen Mischung aus Urban Fantasy und Dystopie jedenfalls von Anfang bis Ende gefesselt und es hat mich auch nicht gestört, dass ich bei diesem Buch ein wenig Gehirnschmalz einsetzen musste, denn so bin ich irgendwann richtig tief in die Geschichte und das komplexe Universum eingetaucht, statt mich einfach nur oberflächlich berieseln zu lassen. Die Welt von Paige ist einfach unglaublich detailliert und bis ins Kleinste ausgestaltet, sie ist originell und erfrischend anders, genau wie die Handlung selbst. 
 
Und auch die Charaktere konnten mich begeistern. Paige ist ein vielschichtiges, störrisches Mädchen, das sich hier von ganz unterschiedlichen Seiten zeigt, mal sanft und verletzlich, mal aufbrausend und kämpferisch, dabei aber stets glaubhaft bleibt. Besonders fasziniert hat mich natürlich auch der Rephait Arcturus, der Paige als Wächter in der Strafkolonie zugeteilt wird. Er ist der Blutsgefährte der Herrscherin und wird deshalb mit Ehrfurcht und Respekt behandelt - naja, jedenfalls von allen außer Paige :-) Und im Gegensatz zu seinen grausamen Kameraden lässt er ihr das auch unerklärlicherweise durchgehen und behandelt sie nicht wie eine niedere Sklavin. Er ist ein großes schweigsames Mysterium, dessen Motive lange Zeit im Dunklen bleiben. 

Mehr will ich auch gar nicht erzählen, sondern euch einfach nur den Rat geben: Lest dieses Buch! Es zählt jetzt schon zu meinen Jahreshighlights und ich fiebere dem zweiten Teil bereits ungeduldig entgegen. Wir werden zwar nicht mit einem fiesen Cliffhanger zurückgelassen, aber Paiges Geschichte ist noch lange nicht zuende erzählt und hält noch einige Geheimnisse bereit. Ich kann das Wiedersehen mit Paige, Arcturus und Co. jedenfalls kaum noch erwarten und spreche eine dicke Leseempfehlung aus!