Rezension

Ein Leben nach Maß

Ein Leben nach Maß - H. M. Van Den Brink

Ein Leben nach Maß
von H. M. van den Brink

Bewertet mit 4 Sternen

Karl Dijk, vor seiner Zeit aus dem niederländischen Eichamt entlassen, kam nicht zu seiner eigenen Verabschiedung - was den Ich-Erzähler und Kollegen wie auch die Direktorin überrascht...

Dieser Roman, der mich sehr nachdenklich und teils betroffen zurücklässt, beschäftigt sich mit dem Fortschritt in einer sich stets wandelnden Welt und setzt den Protagonisten, der (leider) nie selbst das Wort führt, für die Tradition der Zuverlässigkeit, der Prinzipientreue und auch unverrückbarer Maßstäbe, die beide Eichbeamte 'kraft ihres Amtes' jeden Tag durchzuführen haben. Hinter der Dijk absolut steht und jeder Veränderung misstrauisch begegnet, ja eher negativ, während der Ich-Erzähler eher anpassungsbereit ist.

In der Abschiedsrede, die Kollege und Ich-Erzähler im Auftrage der Direktorin schreiben soll, lernt man Dijk besser kennen, Einiges jedoch bleibt auch im Dunkeln, etwa seine tatsächliche Herkunft und auch die Tatsache, dass er gegen Ende seiner Laufbahn öfter in die Schreibmaschine einhämmerte, wütend und auch polternd in Betriebsversammlungen auftrat und jede Veränderung als negatives Zeichen sah. Dies machte ihn nach und nach zum "unbequemen, wenn auch langjährigen und verdienten Mitarbeiter", den man nun zu entsorgen versuchte.

In Rückblicken auf die Zusammenarbeit und seinen eigenen Anteil an der Form der kollegialen Beziehung, die mit einer gewissen Verunsicherung einhergeht, erzählt nun der Kollege von seinem Berufsleben und den stetigen Veränderungen und Umzügen des Amtes. Man lernt auch die Ursprünge des metrischen Systems kennen, die ich persönlich sehr spannend fand. Aber auch in poetischer, leiser Sprache werden die Außendiensttermine beschrieben, die beide in entlegene Dörfer führen, wo die Waagen von kleinen Bauern oder auch Händlern nachgeeicht werden mussten, selten zu deren Freude. Messerscharf seziert werden die Unterschiede des Miteinander in-Beziehung-tretens: gestern und heute.
Interessant die Feststellung, dass Fortschritt in den 60er Jahren eine andere, positivere Bedeutung hatte als heute: Es geht um die Veränderungen des letzten halben Jahrhunderts, die hier anhand der Profession und auch der Persönlichkeit Dijks mehr als offensichtlich und auch durchaus widersprüchlich ist. Heute gibt es wieder Menschen, die verpackte Ware (die die losen Produkte und damit die Waagen in den Lebensmittelläden verdrängten) ablehnen und dazu übergehen, dass die Kunden ihre eigenen Behältnisse mitbringen, die Waren vor Ort abgemessen werden. Es waren de facto "noch andere Zeiten", als in den Läden noch Produkte in Papiertüten abgewogen wurden, bis die Tafel- und Balkenwaagen als Relikte einer vergangenen Zeit verbannt wurden. Die verpackten Waren revolutionierte den gesamten Einzelhandel - und veränderten auch die Verkäufer/-Kundenbeziehungen, deren Kommunikation sich mehr und mehr auf ein Minimum beschränkt....
Zum Romanende hin nimmt die Betroffenheit zu - nicht nur die des Ich-Erzählers und früheren Eichbeamten, sondern auch die des Lesers.

Fazit:

Ein in die Tiefe gehender Roman eines fiktiven Menschen, der für unverrückbare Maßstäbe steht, nicht nur kraft seines Amtes, sondern auch durch seine eigene Persönlichkeit und dennoch erkennt, dass auch diese einem Wandel unterworfen sind. Einem Menschen, der dennoch an seinen eigenen Grundsätzen festhält und dadurch womöglich Unsicherheiten bei anderen Kollegen auszulösen scheint. 
Sehr nachdenklich stimmend, betroffen machend - aber auch augenzwinkernd lernt man zwei (fiktive) Mitarbeiter des niederländischen Eichamts und deren Arbeit (von 1961 bis heute) kennen, die gleichzeitig die Veränderungen des letzten halben Jahrhunderts subtil und dennoch sehr klar aufzeigen. Ich entwickelte große Sympathie für Dijk, der gewissermaßen außerhalb der Norm unverbiegbar war bis zu seinem Dienstende und dann spurlos verschwand. Es bleibt auch ein Nachgeschmack, der die schnellebigen Veränderungen der heutigen Welt betrifft, dem wir alle gewissermaßen unterworfen sind und dem Wissen, dass Fortschritt nicht immer zum Wohle der Menschheit geartet ist: Derjenige, der stehen bleibt und sich nicht den Veränderungen anpasst, den "entlässt" das System. Ich vergebe 4 starke Sterne am Literaturhimmel und eine Leseempfehlung!