Rezension

Ein lebendiger und aufregender Albtraum!

Sie - Stephen King

Sie
von Stephen King

Wenn man so knapp dem Tode entrinnt wie Paul Sheldon, dann sollte man das Leben umso mehr schätzen. Doch diese Rechnung ist zweifellos ohne Annie Wilkes aufgestellt worden. Sie verwandelt Pauls gerettetes Leben in ein monatelanges Höllenfeuer, dem sich der Schriftsteller nicht entziehen kann. Eine mitreißende und hochgradig abscheuliche Geschichte!

Im Winter bricht sich der Bestsellerautor Paul Sheldon bei einem schweren Unfall nahe Colorado beide Beine. Das Leben verliert er dabei nicht, weil er von seinem größten 'Fan', der ehemaligen Krankenschwester Annie Wilkes,  gerettet wird. Doch die Rettung sollte sich bald als fataler Trugschluss herausstellen, sein Ableben scheint lediglich aufgeschoben. Denn mit der Entwicklung als Schriftsteller und auch mit dem neuesten Werk ist sein Fan überhaupt nicht einverstanden. Annie zwingt den Autor daher ein Werk ausschließlich für sie zu schaffen, in Pauls verhasstem 'Misery'-Universum.

Von dieser Stelle an, die sozusagen den einleitenden Gedanken abschließt, entwickelt sich ein ungleiches Duell. Annie führt Paul in die Abhängigkeit von verschiedenen Drogensubstanzen. Diese sind nicht nur pharmazeutischer Natur, der größte 'Schuss' für einen Schriftsteller ist das eigene Werk. Während nun Annie immer weiter in das Folteruniversum - physisch wie psychisch - vordringt, um ihr Missfallen auf eine verkommene Art und Weise auszudrücken, schreibt Paul begeistert an seinem Todeswerk und verspielt leichtfertig einen Fluchtgedanken nach dem anderen. Auf dieser Reise wird er viel verlieren, bis schließlich der Wahnsinn höchstselbst einen der beiden Gegenspieler für sich auswählt, und das Widerspiel beendet.

Stephen King schafft mit 'Sie / Misery' eine eindrucksvolle Schockreise durch menschliche Abgründe. Das Spannungspotenzial, das der gemeine Thriller oft erst sehr spät entwickelt, ist hier quasi von Beginn an gegeben und wird bis zum Ende gekonnt (zum Teil unterschwellig) gehalten. Der Leser fühlt sich hier und da an eine Situation erinnert, in der man eine Pfanne getränkt in brodelndem Öl mit Wasser löschen soll. Paul hat das Talent, das benötigte Salz immer wieder in die Wunde der gestörten Annie Wilkes zu streuen.

Die Episoden der Misery-Geschichte verschaffen auch keine Form der Erleichterung. Allenfalls spannen sie die Nervenstränge des Lesers, während er darauf wartet, welche Grausamkeit dem dunklen Verstand der Annie Wilkes noch entspringen mag. Zu was der 'Schmutzfink' Annie fähig ist, erfährt der Leser nicht nur durch die Brutalität ihrer Taten, sondern auch durch einen Blick in ihre Vergangenheit. Ein Kapitel, das Paul lieber nie aufgeschlagen hätte.

Stephen Kings 'Sie / Misery' ist ein Psychothriller der Extraklasse, der ohne Schwierigkeiten dem ein oder anderen den Schlaf in der Nacht rauben wird. Die Dauer misst sich an der eigenen Vorstellungskraft. Dringt man wirklich in die Geschichte ein und wohnt ein paar Tage in Annie Wilkes Schreckenshaus, wird man das Buch an mehreren Stellen schockiert zur Seite legen, nur um danach noch tiefer in diese schwarze Welt einzutauchen.