Rezension

ein literarischer Weltentwurf, an dem jeder Bücherfan seine Freude haben wird

Die Seiten der Welt
von Kai Meyer

Zitat:
„Die Worte verklangen in einer Explosion aus Violett, einem Sturmwind, der Furia packte und in einen Strudel aus Lichtern riss. Isis war neben ihr, und um sie raschelten die Seiten der Welt, als sie durch deren Zeilen stürzten, winzig im Schatten titanischer Lettern.“
(S. 418)

Inhalt:
Furia weiß mehr, als all die normalen Menschen da draußen, obwohl sie ihre Zeit größtenteils abgeschieden von der Welt in der alten Villa der Familie verbringt. 
Furias Vater ist ein Bibliomant und sobald Furia von ihrem Seelenbuch gefunden wird, wird sie ebenso mächtig sein wie er, kann ihn bei der Jagd nach den Leeren Büchern besser unterstützen und sich vor den Agenten der Adamitischen Akademie schützen.

Doch mit einem Mal verändert sich alles und Furia ist gezwungen, in Libropolis, der geheimen Stadt der Bücher, nach Hilfe zu suchen, um ihren Bruder Pip zu retten. Doch auf welche Erkenntnisse Furia stößt, hätte sie niemals auch nur erahnen können. Der Wettlauf um ihr Leben und die Rettung der Literatur beginnt.

Meinung:
Wie begierig war ich auf das neue Buch von Kai Meyer, das bereits im Entstehungsprozess präsent war wie kein anderes.

Und schon kurz nach dem ersten Bestaunen der fantastischen und besonderen Optik stürzte ich mich zwischen die Seiten – im wahrsten Sinne des Wortes, denn gemeinsam mit Protagonistin Furia betrat ich ohne langes Vorgeplänkel das unterirdische Gewölbe der Faerfax-Villa. Ab diesem Moment hielt mich Kai Meyer mit seiner Fantasie gefangen: Bücher über Bücher, dazu die Bedrohung, niemals vom Hauptweg abzukommen, die über mich schlich wie die Faszination für die lebenden Origamis, gefaltete, zum Leben erweckte „Parasiten“, die die Bücher von Staub befreien, oder Ypsilonzett, der Buchstabenhaufen aus zerfallenen Büchern, die mit Furia kommunizieren und sie vor dem Schimmelrochen warnen. 

Die Magie des Ortes ist auf jeder Seite greifbar, Furias Gedanken erläutern derweil die Hintergründe: Sie entstammt einer Familie von Bibliomanten, die – nachdem sie von ihrem Seelenbuch gefunden wurden – große magische Kräfte aus diesem ziehen können, wie ihr Urahn Severin, der mit Furia über ein gemeinsames Buch kommuniziert. Er im Jahre 1804, sie heute. Über dieses „gemeinsame Schreiben“ erfahren wir viele Hintergründe, das wahre Ausmaß all dieser anfänglichen Information und des Weltentwurfs zeigt seine Besonderheit jedoch erst nach dem Lesen in vollem Umfang, was mich begeisterte.

Etwas geht in der Welt vor sich, das selbst die Luft im abgelegenen Anwesen der Faerfax verändert. Die Bedrohung durch die Adamitische Akademie ist nicht präsenter als sonst, lediglich Furias Vater beharrt auf der Angst, um die Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und auf die Zerstörung der Leeren Bücher, die das Ende der Literatur bedeuten könnten. Wen die Faerfax aber wirklich fürchten müssen, zeigt der Perspektivenwechsel zu Mater Antiqua in die Hauptstadt der Bücher: Buenos Aires.

Die Welt voller buchischer Magie, die Kai Meyer erschaffen hat, geht nach einer Verkettung von Ereignissen und einem „einfachen“ Lesezeichen, das Furia nach Libropolis führt (und das dem Buch auch beiliegt!) noch mehr in die Tiefe. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich an eine berühmte Gasse oder ein bestimmtes Gleis erinnert, als Furia den Weg zur Stadt der Bücher antritt.

Furia war mir als Charakter lange Zeit nicht sehr nah, was vielleicht auch an dem tiefen Graben lag, den meine Unwissenheit über ihre Welt verursachte. Aber Stück für Stück kam sie mir näher, auch wenn ich nicht immer Sympathie für sie hegte. Insgesamt konnte ich diese auch an andere Charaktere kaum vergeben. Zu viele Eigenarten, negative Momente, ließen mich sehr sparsam damit umgehen.

„Die Seiten der Welt“ ist ein wahrer Schatz für Buchliebhaber. Nicht nur die Gestalten, die büchertypischen Begriffe… Nein, es ist ein Buch über Bücher. Die Exlibri beispielsweise: Charaktere, die durch Bibliomantik aus ihrer Welt gerissen wurden, die allesamt entweder undefiniert waren, weil der Autor sie wenig beschrieben hatte – oder stereotypisch, vielleicht noch mit total überzeichneten Alleinstellungsmerkmalen. Also überlegt, wie ihr eure Charaktere beschreibt, liebe Autoren. 
Ein Kichern entfuhr mir auch beim Methapherngas, das als Waffe eingesetzt wird und manchmal auch in Büchern zu finden ist (da kenne ich auch so einige!).

Durch die Vielzahl an neuen Begriffen und Welten waren natürlich auch viele Beschreibungen und Erklärungen notwendig, die die „Seiten der Welt“ stellenweise dominierten und den Text gefühlt in die Länge zogen – obgleich ich natürlich weiß, dass sie notwendig sind, fühlte ich mich endlos in diesen Beschreibungen gefangen und verlor so ab und zu die Handlung aus den Augen. Spannung ist durch die stets erwähnte Bedrohung vom ersten Kapitel an vorhanden, Kai Meyer ließ es jedoch nicht darauf beruhen und setzte immer noch ein Häppchen mehr darauf, was das Spannungslevel kontinuierlich ansteigen ließ und mich an die Seiten fesselte.

Ehe ich mich versah, betrat ich die Refugien, eins tiefer als das andere, und war in der Geschichte verloren, tauchte nur zum Luftholen während des aufwühlenden und nervenaufreibenden Showdowns auf, der mich zu einem gelungen Ende führte.

Urteil:
Die fantastischen „Seiten der Welt“, die Kai Meyer mir gezeigt hat, konnten nicht gänzlich über die zähen Episoden durch die vielen Beschreibungen hinwegtrösten und die Bibliomantik ist knapp an der Höchstwertung vorbeigeschrammt. Sehr sehr gute 4 Bücher für Kai Meyers Buch der Bücher.

Nicht nur Fans der Tintenwelt werden an dem literarischen Weltentwurf von „Die Seiten der Welt“ ihre helle Freude haben. Ein Muss fürs Regal eines jeden Bibliophilen.

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