Rezension

Diese Rezension enthält Spoiler. Klicken, um alle Spoiler auf dieser Seite lesbar zu schalten.

Ein Mahlstrom

Die geheime Geschichte - Donna Tartt

Die geheime Geschichte
von Donna Tartt

»Sie schloss die Augen – dunkle Lider, dunkle Schatten darunter; sie war wirklich älter, nicht mehr das Mädchen mit dem silbernen Blick, in das ich mich verliebt hatte, aber deshalb nicht weniger schön, schön auf eine Weise jetzt, die nicht so sehr meine Sinne erregte, als mir vielmehr das Herz zerriß.« (Donna Tartt, Die Geheime Geschichte, 6. Auflage, München 2014, S. 567)

Das Zitat ließe vermuten, bei Donna Tartts Debutroman handle es sich um eine Liebesgeschichte – die »Geheime Geschichte« ist aber eine andere. Die Liebe zu dem »Mädchen mit dem silbernen Blick« ist nur ein Strang einer Geschichte, die das Werden des jungen Kaliforniers Richard erzählt. Auf Umwegen schafft Richard die Flucht aus dem Arbeitermileu der US-amerikanischen Westküste nach Hampden, einer Hochschule Neuenglands, die nicht die begabtesten jungen Menschen aufnimmt, sondern eher ein Sammelbecken vorwiegend wohlhabender Amerikaner ist. Anfangs tut er sich freilich schwer in der mondänen Akademikerwelt der Ostküste. Anschluss findet Richard erst, nachdem er in den elitären Zirkel des Altphilologen Julian gerät: Er wird in dessen ›Klasse‹ aufgenommen, weil Julian ein undurchsichtig bleibendes Interesse an Richard entwickelt, und ausschließlich dort unterrichtet. Mit den fünf weiteren Studierenden freundet er sich bald an, ja, er geht ein inniges Verhältnis mit dem Dozenten und seinen ›Schützlingen‹ ein. Bald spielt sich fast sein gesamtes soziales Leben innerhalb dieses Zirkels ab. Bald zeigt sich, dass dieser erwählte Kreis nicht nur das Griechisch eifrig studiert, sondern auch obskure ›metaphysische Versuche‹ betreibt, was einer unbeteiligten Person das Leben kostet. Danach entsteht innerhalb des Zirkels ein Mahlstrom der gegenseitigen Verdächtigung, Missgunst und der Selbstzerstörung.

»Die Geheime Geschichte« ist eine Mischung aus Kriminalroman und einer guten Portion Salinger und Easton Ellis. Die Geschichte fesselt und ist in schöner Sprache erzählt und hält manchen Irrweg bereit. So ging ich fest davon aus, dass Julian eine gut aufgehobene, plötzlich einsetzende entscheidende Rolle spielen würde – er nimmt sich indes einfach selbst aus dem Spiel. Oft vermutete ich ein anderes Weitergehen der Geschichte, was für Spannung und Überraschung sorgte. Tartt gliedert die Geschichte in zwei Bücher, eines bis zur Katastrophe, ein anderes nach der Katastrophe. Das erste Buch baut langsam und sorgfältig all das auf, was im zweiten Buch sich so schnell verflüchtigt. Mir gefiel das erste Buch besser, weil es ruhig die Strukturen schildert, während sich im zweiten Buch die Ereignisse überschlagen, was interessanterweise dazu führte, den ersten Teil deutlich sorgsamer und langsamer ge- lesen zu haben.

Der eingangs zitierte Satz soll Interessierten einen Eindruck von Tartts Sprache bieten. Zudem war ich von dem Satz seltsam ergriffen: Er schließt die ›Liebesgeschichte‹ ab, ein ›Nebenkriegsschauplatz‹, der zwar durchgehend eine, aber keine herausragende Rolle spielt. Er steht exemplarisch für meine Auffassung von Tartts Stil: bald ergreifend (wegen Inhalt und Wortwahl), bald distanziert kühl (wegen Satzbau und Tempora) – und oft beides auf einmal.

Eine klare Empfehlung für Freunde schöner Sprache und Salingers und Easton Ellis' !