Rezension

Ein meisterlicher Richterroman

Kindeswohl - Ian McEwan

Kindeswohl
von Ian McEwan

Die Familienrichterin am obersten Gerichtshof, Fiona Maye verkörpert in ihrer logischen und disziplinierten Art das Staatssystem, das sich überraschend oft religiösen Fragen und Problemen auseinandersetzen muss. Es werden in "Kindeswohl" unterschiedliche Fälle mit unterschiedlichen Religionen und deren Ausprägungen erwähnt; verschieden extreme Auslegungen von religiösen Riten treffen aufeinander, Krankheiten und moderne (medizinische) Technologien stehen moralischen Vorstellungen gegenüber.

Im Zentrum steht jedoch der Fall um eine Bluttransfusion bei einem 17-jährigen Sohn von Zeugen Jehovas. Dieser intelligente, eloquente wie charmante junge Mann, den die Richterin persönlich im Krankenhaus besucht, um seine Ansichten direkt von ihm selbst zu hören - ein ungewöhnliches, inzwischen unübliches Verfahren. Mit dieser Begegnung beginnt Fionas Leben endgültig ihrer Kontrolle zu entgleiten. Es ist der klassische McEwan'sche Twist, bei dem durch eine Kleinigkeit, fast eine Unachtsamkeit ein Gefüge, eine sorgsam erschaffene Fassade zerbricht. Das Leben der Richterin wird jedoch schon zuvor erschüttert, als ihr ihr Ehemann mitteilt, dass er eine (letzte große) Liebesaffäre plant und dafür gern ihr Einverständnis haben würde. Fiona ist geschockt und verletzt und flüchtet sich in ihre Arbeit, der sie den eigenen Kinderwunsch und vielleicht sogar ihre Ehe geopfert hat.
Fiona zwingt durch ihr Urteil den jungen Mann zur Bluttransfusion, rettet ihm damit indirekt das Leben. Zugleich hat sie mit ihrem Besuch und ihrem Urteil weit mehr in dem jungen Mann bewirkt, der bisher kaum Berührungspunkte außerhalb seiner Religionsgemeinschaft hatte. Er ist fasziniert von dieser starken, eleganten Frau, die mit Logik und Methodik argumentiert - für den jungen Adam ein Novum. Er kommt schließlich aus einer Welt, die blinden Gehorsam und Glaube an eine höhere Logik fordert.

Dieser kurze Roman entwickelt in seinem zwingend logischen Ablauf eine enorme Sogkraft. Nicht selten hörte ich in den letzten Wochen, dass auch andere Leser das Buch einfach nicht aus der Hand legen konnten. Mir ging es genauso. Der kühle, eindeutig zur logischen und effizienten Denkweise von Fiona passenden Erzählton ist perfekt gewählt. Immer stärker steht er zum emotionalen Chaos, das unter der sorgsam gepflegten Oberfläche brodelt. Nach meiner eher mühsamen Lektüre von "Abbitte", das durch ausufernde Beschreibungspassagen und einer verschnörkelten Sprache ermüdete, ist "Kindeswohl" voll schlichter, anmutiger Sprache.

Fazit: Es ist ein Buch mit Sogkraft, voller facettenreicher Figuren, einem spannenden, anspruchsvollen Thema und einer präzisen und klaren Sprache (und Übersetzung!). Ein Buch, dass beweist,dass gute Literatur durchaus unterhaltend sein kann.