Rezension

Ein nachdenkliches und zum Nachdenken anregendes Buch

Mit offenem Herzen - Elie Wiesel

Mit offenem Herzen
von Elie Wiesel

Bewertet mit 4 Sternen

Elie Wiesel, 1928 in Sighet geboren, hat u. a. Bücher zum Chassidismus, einer osteuropäischen mystischen jüdischen Bewegung, geschrieben, zum Talmud und zu jüdischen Gelehrten, zu biblischen Gestalten; er hat Romane verfasst und »Die Nacht« veröffentlicht, ein Buch, in dem er in Worte zu fassen sucht, was ihm und zahllosen Juden während der Shoah widerfahren ist. In seinem kleinen Buch »Mit offenem Herzen. Ein Bericht zwischen Leben und Tod« ist eine schwere Herzerkrankung im Jahr 2011, die eine Operation am offenen Herzen erforderlich macht, der Anlass, in 26 schmalen Kapiteln auf sein Leben zurückzublicken und Bilanz zu ziehen – oder besser: eine Vor-Bilanz, denn Wiesel hat noch viel vor, möchte noch so viele Dinge vollenden, Projekte entwerfen, Gebete sprechen, Kurse geben (S. 25).

Einige Themen und Fragen, die ihm durch den Kopf gehen: Hat er jetzt, vor der OP, Angst vor dem Tod – wo er in Auschwitz mit und in ihm gelebt hat (S. 24)? Hat er den Rat des Talmudweisen befolgt, stets so zu leben, als müsse man morgen sterben?

Was hat er in der Zeit seines Lebens getan, was hat er unterlassen? Hat er seine Aufgabe als Überlebender erfüllt (S. 40) und berichtet, was geschehen ist – wobei alles, was er sagen kann, eine »Erfahrung widerspiegelt, die über jedes Verständnis hinausgeht« (S. 49)? Letzteres ist auch der Grund, weshalb sich Wiesel gegen eine »Banalisierung und Trivialisierung von Auschwitz in Kino und Fernsehen« gewandt hat (S. 41).

Wiesel charakterisiert das Judentum als eine Religion, die das Leben betont, und schreibt Sätze wie: »Wenn das Leben keine Feier ist, weshalb sollten wir uns dann erinnern? Wenn das Leben - meines oder das meines Nächsten - keine Opfergabe für den anderen ist, ws tun wir dann auf dieser Erde?« (S. 92)

Elie Wiesel blickt auf einige seiner Bücher zurück, die für ihn offenbar Teil eines ethischen Auftrags sind (S. 41 ff). »Habe ich … für den Kampf gegen den Hass, den ich unermüdlich führen wollte, genügend Zeit und Energie investiert, um den Fanatismus in seinen verschiedenen Masken zu entlarven?« (S. 51) Er fragt nach der Bedeutung von Auschwitz für ihn als Juden (S. 79–81) und danach, wie ihn die Operation und erneute Todesnähe verändert hat: »… mein Bewusstsein, also mein ganzes Sein trägt immerfort die Vergangenheit in die Gegenwart. Wenn das, was ich damals in den fernen Gefilden der Erloschenen erlebte, mich nicht verändern konnte, warum sollte es ausgerechnet dieser neuen Bewährungsprobe gelingen?« (S. 92 f.)

Elie Wiesel schreibt von seiner engen Verbundenheit mit seiner Frau, seinem Sohn – und den Toten und Ermordeten: seinem Vater, seiner Mutter, seiner kleinen Schwester: »Sie sind bei mir geblieben. In all meinen Erzählungen, in all meinen Träumen leben sie. Und in allem, was ich lehre.« (S. 55) Auch hier die beeindruckende Gegenwart und Wirksamkeit der Menschen, der Lebenden wie der Toten, im Empfinden und Denken des Lebenden – etwas, was auch für die Figuren in Wiesels Romanen kennzeichnend ist. Uns kann dies z. B. zu der Einsicht führen: Ein Grund für die Erinnerung an die in der Shoah gequälten und ermordeten Menschen ist, dass ein Nichterinnern Ignoranz ist, eine Verleugnung von deren Existenz. Und eine Bestätigung des Handelns Hitlers und der vielen anderen, die diese Menschen verfolgt und ermordet und aus unserer Wahrnehmung entfernt haben.